Überblick bzw. "Was 2017 bisher geschah":

 

Moderne im Alten (Herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig, 10.12.2017)

Kürbis kann alles (Buchholz, 17. November 2017)

Art meets Science (DESY) (Hamburg, 1. November2017)

Italien 5: Viermal geht die Sonne unter (verschieden Orte, Italien, 19. Oktober 2017)

Italien 4: Stühle für Padre Pio (Apulien, 7. Oktober 2017)

Italien 3: Am Lebendigsten ist es hier auf dem Friedhof (Dorfruine Pentedattilo, Kalabrien, 5. Oktober 2017)

Italien 2: Rossano und die Wehmut der Erinnerung (Kalabrien, 2. Oktober 2017)

Italien 1: Italienische Geheimnisse (Giardino dei Tarocchi, Toskana, 1. Oktober 2017)

StadtSkulpturen (Münster, 9. August 2017)

Von Dresden bis Binz (29.Juli 2017)

Dresdner Elbhang Spätlese (28. Juli 2017)

Das blaue Wunder (Dresden) 21. Juli 2017

Das Weiße Stück (Dresden) (16.Juli 2017)

What is it all about? documenta 14 (09. Juli 2017)

Kunst im Norden (24. und 25. Juni 2017)

Fehmarn (28. Mai 2017)

Heimat in der Südheide (8. und 12. Mai 2017)

Pitzmoor und Schachbrettblume (9. und 17. April 2017)

Der alte Mühlenhof (26. März 2017)

Tour de Ruhr (5., 10., 11., 12. und 18. Januar 2017)

 


Zwischenbemerkung: Während hier Fotostrecken mit einigen erläuternden Sätzen versehen sind, gibt es aus dem Urlaub in Italiens Süden ein paar längere /aber auch illustrierte) Reisebetrachtungen auf der Seite https://engelmannsnotizen.jimdo.com/reisen-italien-2017/. Dort kann man lesen:

 

-  Venedig hin und zurück (Eine Schiffsfahrt zur Kunst-Biennale)

-  Sebben che siamo donne (Volksmusik in der Basilikata)

-  Geisterstädte

-  Zwei Fabriken

- Il Lago dei Cigni (Paestum)

 

 

 

Sonntag, 10. Dezember 2017 - Moderne im Alten

Besuch im Herzog Anton Unrich Museum (HAUM) in Braunschweig: Das Museum mit Gemälden, Kupferstichsammlung, Majolica-Schwemme und Uhren/Schmuck/Skulpturen geht auf die Zeit Ende des siebzehnten Jahrhunderts zurück, als der Herzog seinen kultivierten Standard durch Sammlung aller Gegenstände unter Beweis stellte, die damals als Kunst galten. Besonders stolz sind die Museums-Macher auf ihre Giorgione, Rubens, Rembrandts und den (in der Tat wunderschönen) Vermeer.  Das heute genutzte Gebäude wurde 1887 erbaut und bis zum letzten Jahr grundlegend saniert und in den Ursprungszustand rückversetzt. Neu dazugekommen: Die farbigen Stofftapeten an den Wänden. Und die geben dem Ganzen ein Gepräge absoluter Moderne im Alten. Das ist ein unglaublicher wow-Effekt, der beim Rundgang nicht nachlässt und den präsentierten Objekten einen Glanz verleiht, der fast noch bis zum anschließend heimgesuchten Braunschweiger Adventsmarkt gehalten hätte. Aber den Aromawolken von Schmalzgebackenem, Reibekuchen und Grillwurst dann doch nicht standhielt.


Freitag, 17. November 2017

Kürbis kann alles

 

Der kleine Kürbis war irgendwie immer noch sauer, dass sie ihn bei Halloween nicht hatten mitmachen lassen. Zu klein, hatten sie gesagt. Paah! Süßes oder Sauresd, ein Kürbis kann alles! Auch ein kleiner! Und so hing er immer noch rum und  saugte die letzten Sonnenstrahlen auf, weil er wachsen wollte, auch wenn er auf eine Fratze und auf eine Kerze im Bauch hatte verzichten müssen. Die kleine Spinne hatte ihm erzählt, dass manchmal ein paar kleine Kürbisse in das Haus durften, lagen dann in einer Schale und hatten nichts weiter zu tun, als dekorativ auszusehen. Na, das wäre ja gelacht, wenn das nicht zu schaffen sein sollte. Ein Zierkürbis - wenn nur die Spinne nicht wieder nur gesponnen hatte, manchmal tat sie das, vielleicht war sie ja neidisch, dass es keine Zierspinnen gab, wollte keiner im Haus haben, da konnte man schon verstehen, das man darüber verrückt werden kann. Da konnte noch so viel die Rede von Netzwerken sein, WLAN und so, oder politisch, Spinnennetze kamen in keinen Partykeller. Und so träumte der Kürbis vor sich hin,  Kürbisträume...


Mittwoch, 1.November 2017

Art meets Science

 

 

Das DESY trifft auf die Welt der Normalen - eine Kollision, aus der kreative spin-offs entstehen können. Auf der Suche nach der dunklen Materie unter trübem Oktober-Himmel stießen wir auf Kunstwerke von Künstlern und kunstvolle Installationen von  Technikern, die zweckgeboren und -gebunden und somit keine Kunst sind. Aber manchmal mindestens ebenso spannend aussehen wie die Objekte der Künstler. Zugegeben : Die LED-Beleuchtung ist nicht ganz neu und diese Illuminationseffekte insofern nicht unbedingt der letzte Schrei, aber schick waren sie trotzdem.

Die oberen Bilderzeilen sind explizit Kunst, die unteren nicht. Entscheiden Sie selbst. Nachbemerkung: Am meisten fasziniert und unterhalten haben mich die Filme. Kurzfilme mit ausgesprochen wissenschaftlichen oder ausgesprochen skurrilen Themen, verrückt und einfallsreich. In einem Hörsaal des DESY gesehen eine ganz besondere Delikatesse. Aber leider unknipsbar. Und auch die Installation an der Wendeltreppe mit einer sich drehenden Kamera, die die Bewegung der Innenarchitektur in Filmbilder umwandelte (2. Reihe rechts), die über Monitore spindelten, war klasse und nicht zu fotografieren.


 

Donnerstag, 19. Oktober 2017 - Italien, Kapitel fünf

Viermal geht die Sonne unter

Das kleine Flugzeug will nach Hause - oder vielleicht doch nach Capri, das ist die kleine Insel, hinter der die Sonne gerade schnulzenreif untergeht (Rudi Schuricke, Sie wissen schon...). Vom Strand bei Paestum aus gesehen versinkt sie tatsächlich gerade dort, wo der Schlager es verewigt hat. Und im Flugzeug sitzt der kleine Prinz und will zum Fuchs, ihn zähmen...

Mindestens ebenso malerisch, aber an Rudi Schuricke vorbeigegangen ist der Sonnenuntergang vom Strand bei Maratea aus gesehen, aber das ist eben auch nicht Capri, was man da grau im Abendrot liegen sieht, es sind nur die Felsen der südlichen Campania bei Camerota. Und wenig Rot gibt es über der Lagune von Venedig, wo am Rande des Hafens von Chioggia ein Baggerkran seiner unergründlichen Arbeit nachgeht.

 

 

 


Sonnabend, 7. Oktober 2017 -

Italien, Kapitel 4

Stühle für Padre Pio

San Giovanni Rotondo ist ein Wallfahrtsort am Rande des Gargano. Es gibt wohltätige Einrichtungen en masse, große Parkplätze und eine Riedenkirche, die 2004 von Renzo Piano entworfen wurde, dem italienischen Stararchitekten, der auch schon Flughäfen und Bahnhöfe gebaut hat. Die Kirche hier bietet Platz für über 6000 Gläubige, und der Platz davor fasst noch einmal dreißigtausend. Als wir den Ort aufsuchen, bahnt sich gerade das jährliche Event zum Gedenken an den Heiligen an. Ich hatte zunächst immer geglaubt, Padre Pio sei Papst Pius, aber nein,er war ein einfacher Priester, zeitweise vom Amt suspendiert, Mitte des letzten Jahrhunderts. Aufgrund seiner Wundmale, die kein er so ganz genau untersuchen durfte, und seiner wunderbaren Hilfe (bis zu 15 Stunden nahm er täglich die Beichte ab)  wurde er heiligesprochen. Es gibt ein großes Krankenhaus hier mit Ambulatorium und Forschungsinstituten, ein Seniorenstift ist in Bau, und Padre Pio schwebt über allem. Ich habe mich auf die kaffeebraunen Stühle und die Marmorvögel konzentriert.  Das Wasser läuft übrigens ins Taufbecken. Hier ist alles durchdacht. Dann fuhren wir wieder ab.


Donnerstag, 5. Oktober 2017 -

Italien, 3. Kapitel:

Am lebendigsten ist es hier auf dem Friedhof

Das Dörfchen Pentedattilo wird von hohen Felsen überragt,  die nicht ausgesprochen stabil wirken. Wohl auch deshalb wurde in den fünfziger Jahren angeordnet, das Dorf zu räumen und einen Kilometer weiter neu aufzubauen. Steinschlag plus Erdbebengefahr, das schien den Behörden eine ungute Kombi-nation. Bis heute (so sagen die Leute hier) ist drumherum bei Erdbeben alles mögliche in sich zusammen gefallen - nur Pente-dattilo nicht, das Geisterdorf ganz im Süden Kalabriens. Mittlerweile darf man sich dort zumindest wieder aufhalten, ein paar Kunsthandwerkslädchen sind geöffnet, hier und da ist eine Kammer hergerichtet, in die man sich einmieten kann. Die EU hat die Dorfstraße sichern lassen, damit keiner stolpert. Und nun wartet Pentedattilo auf Touristen. Im Oktober gibt es die zwölfte Auflage des Kurzfilmfestivals auf der Freilichtbühne mit Blick auf die Dorfruine. Und jeder Reiseführer beinhaltet mittlerweile den Hinweis auf das geräumte Dorf. Noch ist hier nicht so viel los wie in Craco, etwas weiter nördlich in Richtung Matera, wo sich die Filmregisseure tummeln: Lina Wertmüller, Mel Gibson, und zuletzt ein paar Szenen aus dem James-Bond-Film "Ein Quantum Trost". In Pentedattilo werden allenfalls Filme geguckt, nicht gedreht.

Ein paar hundert Meter weiter und zwanzig, dreißig Meter höher liegt auf dem Nachbarhügel der Friedhof mit weitem Blick über das Dorf und das Meer. Er wurde nicht geräumt, zwar steht das eine oder andere Familiengrab leer, aber auch die Einwohner des neuen Pentedattilo weiter unten im Tal gedenken ihrer Toten weiter auf dem alten Friedhof. Und lassen den Blick dann noch einmal über das verfallene Dorf schweifen, das über Jahrhunderte auf den Felsen gewachsen war und nun in der Abendsonne liegt und zu nichts mehr nütze ist.


Italien, 2. Kapitel:

Montag, 2. Oktober 2017

Rossano und die Wehmut der Erinnerung

Rossano Calabria liegt am Ionischen Meer. Als das nahe-gelegene Sybaris, eine griechi-sche Siedlung aus der Zeit 500 v. Chr. längst dem Erdboden gleichgemacht worden war (man hatte einfach den Fluss Crati umgeleitet und die Stadt überflutet), erhob sich Rossano zu seiner Blüte vor allem von 800 bis 1100, also zur Hoch-Zeit der byzantinischen Mittelmeehr-Herrschaft. Es ließe sich noch eine Menge über diese Vergangenheit berichten (z.B. wie der magdeburgische Kaiser Otto II. seine Frau Theophanu in Rossano zurückließ, um gegen die Sarazenen zu Felde zu ziehen), aber mein Rossano-Feeling speist sich nicht aus den Einzelheiten, sondern der großen Linie. Und die verlief für Rossano im Mittelalter und kurz danach prunkvoll, mächtig und kulturell einflussreich. Politik, Religion und Oliven, das war eine fruchtbare Kombination. Rossano war damals eine der Metropolen im italienischen Raum. Byzanz ging unter, und die Oliven allein brachten es nicht mehr. Wenn auch seit 1731 noch eine renommierte Lakritzproduktion hinzukam (und heutzutage ein eher nicht so glamouröser Massentourismus), blieb die Altstadt von Rossano stecken in der Erinnerung an eine bessere Zeit. Kirchen im byzantinischen Stil (oben und unten erste Reihe  das Oratorium San Marco, eher eine Kapelle - unten zweite Reihe Santa Maria del Patire, ein paar Kilometer bergwärts einsam gelegenes Konvent), Bürgerhäuser in verblichenen Farben, grau angelaufene Fassaden, dazwischen Leerstand und Verfall. Rossano ist eine verblühte Schöne, aber sie hat mein Herz berührt wie keine andere der alten Städte in Kalabrien. So stolz, so perspektivlos, und mit der wehmütigen Erinnerung an so viel Schönheit.

Vielleicht wurde der einsame Eindruck verstärkt, weil wir sonntags durch das centro storico spazierten, und nach einer lebendigen Stunde zwischen elf und zwölf erstarb das Leben, die Italiener saßen mit ihren Familien beim Mittagessen, und kein Mensch war mehr auf der Straße. Keine Bar mehr offen, kein  Kaffee zu kriegen, nur ein mit sich selbst sprechender verwildert aussehender Mensch trieb sich noch auf dem Platz herum, der hatte keine Familie. Rossano ruhte sich aus. Wir gingen durch den zweihundert Meter langen Tunnel aus der Altstadt auf den Riesenparkplatz wie durch einen Zeittunnel zurück in die Gegenwart.

Etwas unterhalb der Altstadt hatte die Baronin Amarelli vor zweihundertachtzig Jahren begonnen, aus der Süßholzwurzel (die hier in der Gegend überall herumwuchert) Lakritz zu extrahieren (oder besser: extrahieren zu lassen). Die Blechdöschen von Amarelli gehören zum italienischen Kulturgut. Es gibt auch Lakritzlikör oder Mandelgebäck mit Lakritz, und das Lakritzpulver nahmen wir mit, um daraus Eis zu machen. Und dann daheim von Rossano zu träumen.

Hinter der Fabrik lag das reihenhausartige Gebäude mit sechs Wohnungen, in denen wohl früher die Arbeiter hausten. Es sah noch genutzt aus. Assoziativ dachte ich an Flüchtlinge. Aber vielleicht war es auch nur der Pausenraum der Feldarbeiter. Die Fabrik kann man besichtigen und von einem noch warmen frischen Lakritzbatzen abbeißen. In dem schicken kleinen Lakritzmuseum gibt es Lakritzkunst.


Italien, Erstes Kapitel:

Sonntag, 01. Oktober 2017: Italienische Geheimnisse (Giardino dei Tarrocchi, südliche Toskana)

Niki de Saint Phalle ist die 1930 in Frankreich geborene, in den  USA aufgewachsene und durch Heirat von Jean Tinguely auch zur Schweizerin gewordene Künstlerin der Nanas. Die Figuren der starken, drallen Frauen haben sie berühmt gemacht. Sie war aber auch Schöpferin von aggressiv-bedrückenden Skulpturen aus Gips und Farbbeuteln ("Schießbilder"), Video-Künstlerin und Erbauerin von Kinderspielplätzen. Fast hätte sie auch noch den Hamburger Spielbudenplatz umgestaltet, aber dann starb sie 2002.

 

In Italien hat sie von 1979 bis 1998 den "Giardino dei Tarocchi" gebaut. Zusammen mit ihrem Mann, dem Schrott-Skulptur-Bauer Jean Tinguely und einer Gruppe von Handwerkern entwarf und gestaltete sie den Tarot-Garten mit über zwei Dutzend Figuren, die zum Teil groß wie ein Haus sind. Die Figuren folgen den großen Arkana ("Rätsel") des Tarot-Spiels: Es tritt die Hohepriesterin auf, der Prophet, die Mäßigkeit, die Gerechtigkeit und andere mehr. Die Figuren sind knatschbunt, vielfach aus kleinsten Glasscherben zusammengesetzt, fröhlich und (manche) auch unheimlich. Familien mit Kindern toben durch den Garten, lachen und freuen sich - welche sitzen auch da und gucken sich satt,  trinken die Lebendigkeit und den "spirit" des Ortes.

Der Garten liegt nahe dem kleinen Städtchen Capalbio im südlichen Zipfel der Toskana. In der Nachbarschaft gibt es Binnenseen am Dünengürtel, in denen Flamingos stehen, und bis in die fünfziger Jahre war die Bevölkerung der grassierenden Malaria ausgeliefert. Manche Figuren sind so groß, dass man hineingehen kann.  In der Herrscherin oder "Kaiserin" hat sich Niki in der Bauphase eine Wohnung eingerichtet, sich sozusagen eine neue Mutter geschaffen, in der sie lebte (bis hin zu den Besprechungen mit den Handwerkern oder gemeinsamen Teepausen mit ihnen). Neben dem Tagesraum und dem Schlafzimmer (das man hier unten sehen kann) gibt es auch eine Küche und ein Bad.

So fröhlich das auch alles aussieht, es enthält auch Hinweise auf die Schrecken der Welt und die des Lebens von Niki de Saint Phalle. Ihre Angst vor Schlangen hat sie im Tarotgarten durch zahllose Schlangen zu bändigen gesucht, die hier auftauchen - und bunt und ungefährlich wirken. Eine ist sogar reinigend - aus ihr kommt der Strahl der Dusche im Bad. Da hat Niki anscheinend erfolgreich ein Problem integriert. Aber es ist auch ein "Schießbild" zu sehen, das wohl ihren Vater darstellt, unter dessen Missbrauch (sowie der Leugnung dieses Traumas durch Familie und sogar ihren Psychiater) sie zeitlebens gelitten hat. Neben das Schießbild hat sie ein Selbstportrait gesetzt und es mit "Tränen" (tears)  betitelt.  Das blutende Nashorn wird seinen Wunden womöglich erliegen. Es ist nicht alles so spaßig, wie es zunächst wirkt.

Manchen ist der Tarotgarten zu esoterisch. Aber manchmal braucht man eine (neue) Mutter, den Trost der Sterne und von Frau Luna oder einen weisen Propheten oder Eremiten (siehe unten), der einem den Weg weisen kann (und sei es auch "nur" eine innere Instanz, die mich den Weg finden lässt und die ich als Propheten ansehen kann). Bei unserem Besuch im Tarotgarten in der Provinz Grosseto hatte ich den Eindruck, Niki de Saint Phalle habe hier eine Bilanz gezogen - Bilanz ihrer schweren Kindheit und Jugend, Bilanz des vergeblichen Versuchs, in eine selbst erschaffene eigene Familie zu fliehen (ihre erste Ehe mit die beiden Kinder), Bilanz der Therapien und Behandlungen und - vor allem - der künstlerischen Befreiung. Eine starke Frau, und ein bisschen Niki steckt in jeder Nana.


Mittwoch, 09. August 2017: StadtSkulpturen

Das unkonventionellste, was Münster seit dem Westfälischen Frieden 1648 zu bieten hat, ist der Tatort. Könnte man meinen. Dabei ist der ja auch schon wieder heftiger mainstream,  und außerdem gibt es schon viel länger die Münsteraner Skulpturen. Die Ausstellungen gibt es seit 1977 alle zehn Jahre, und jedes Mal bleiben ein paar stehen: Von 1977 stammen die "Giant Balls" von Claes Olden-burg am Aasee, dreiein-halb Meter runde Billard-kugeln aus Beton. Die werden von der Münsteraner PR-Industrie schon ausreichend beworben, hier also ein paar andere alte Exponate - und neue aus der diesjährigen Ausstellung. Zum Beispiel oben: Der Hamburger Tunnel am Hauptbahnhof, eine eher schmuddelige Passage mit tausenden von Fahrrädern auf doppelstöckigen Ständern, die Klanginstallation eher unspektakulär, und wer die Wandgestaltung zu verantworten hat, steht nirgends. Unbekannte Künstler, die ein paist-up von ungefähr hundert Meter Länge geschaffen haben, das fand ich Klasse. Unten gesprayt: "Grund einer jeden Revolution ist die Unzufriedenheit der einen über die Zufriedenheit der anderen".  Und am Ausgang des Tunnels noch ein piece: "Wollt Ihr den totalen Arbeitsplatz? P.S. Dies ist ein Antiterroranschlag des Asozialen Netzwerks". Das ist die Verbindung zwischen Münster und Kassel: Hier das Asoziale Netzwerk von Marc Uwe Klings Känguruh - dort die Känguruh-Bilder des Aborigine-Politologen Gordon Hookey.

Ältere Skulpturen: Die "Square Depression" von Bruce Naumann (2007), eine Negativ-Pyramide auf dem Campus neben dem Institut für Kernphysik, und das "Schiff für Münster" (1987), gemauert im Wasser des Kinderbachs, der den Anette-von-Droste-Hülshoff-Park durchmurmelt ("Oh schaurig ist's übers Moor zu gehn...").

Von dort aus (beide oben abgebildeten Skulpturen sind sozusagen nahezu Nachbarn) mit dem Fahrrad (na klar, wie denn sonst in der Radfahrerstadt Münster?)  ist es ein Klacks bis zum Überwasserfriedhof mit den Masken und dann gleich die am Kreuztor die "Skizze für einen Brunnen", der leider wenige Tage zuvor ein Kopf abgeschlagen wurde (wohl weniger ein kunstkritischer Kommentar als vielmehr zu viel Kraft bei zu wenig Auslastung). Und der Renner der diesjährigen Ausstellung: die Passage über das Hafenbecken, so etwas wie Christos "floating piers" mit nassen Füßen.

Die Reihenfolge entspricht nicht unserem tatsächlichen Weg. Am ersten Tag waren wir nämlich mit einer Fahrradführung drei Stunden unterwegs, und da hat es permanent geregnet, wie man sehen kann (zum Beispiel unten bei der abgerissenen Oberfinanzdirektion, Skulptur "Off OFD" mit Regenschirmen), und in der letzten Viertelstunde zur Abwechslung geschüttet. Dafür lachte uns die Sonne am nächsten Tag (aus)  und tat völlig unschuldig. Was sie ja auch war.


Sonnabend, 29. Juli 2017 - Von Dresden bis Binz

Nach den Blogbeiträgen über Dresden geht es hier um eine architektonische Reise von Dresden bis Binz. Der Ingenieur Ulrich Müther hat eine Reihe von Perlen der DDR-Baukunst geschaffen, vor allem mit der raffinierten Form der Hyparschale ("hyperbolische Paraboloidschale"). Ein Teil der Bauten ist abgerissen (auch wenn unter Denk-malschutz stehend, wie das "Ahornblatt" in Berlin), ein Teil steht leer (wie die Ausstellungshalle Hyparschale im Magdeburger Rotehornpark), ein Teil wird noch genutzt (wie das Haus des Rudersports in Dresden). Müther kam aus Binz und hat auf Rügen auch Spuren hinterlassen. Hier links zu sehen: Dach über einer Bushaltestelle in Binz / Rügen. Ebenfalls in Binz der Turm der Rettungswache, allerdings ohne Hyparschalendach (unten rechts). Seit einiger Zeit kann man darin heiraten (auch eine Art von Rettung?...). Müther hat auch die Konzertmuschel in Sassnitz gebaut und die Michael-Kirche in Hannover, auch diese mit Schalendach - aber nicht hypar. Müther verstarb 2007 auf Binz.

Die Hyparschalenhalle in Magdeburg (zweite Reihe unten - von vorn, von hinten und von der Seite) steht seit Jahrzehnten leer, so langsam wird es kritisch, aber der Mgdeburger Bürgermeister hat gerade kürzlich zugesichert, es würden zunächst 1,7 Millionen Euro für Sicherung und Sanierung der Halle zur Verfügung gestellt. Eine Nutzungsidee gibt es allerdings bisher nicht. Die Halle war 1969 als Messe- und Ausstellungshalle errichtet worden. Und ich persönlich finde sie am schönsten, in der Gesamtheit aus Baukörper, Umgebung und Material.

Übrigens gibt es auch Hyparschalen-Bauten, die nicht von Müther stammen und die wir (glaube ich) alle kennen: die Hamburger Schwimmoper an der Sechslingspforte, und die Berliner Kongresshalle. Bei dieser wurden in den fünfziger Jahren nach fachlichen Streitigkeiten über die Dachkonstruktion kurzfristig Änderungen an der freitragenden Bauweise vorgenommen. 1980 stürzte dann ein Teil des Daches ein, es gab einen Toten und Verletzte. Nach Einschätzung von Fachleuten waren die vorgenommenen Veränderungen Grund für den Einsturz, die ursprüngliche Version hätte wohl gehalten (aber das konnte man sich Ende der fünfziger Jahre schlicht nicht vorstellen). Die Müther-Bauten halten auch noch - wenn nicht eine  gedankenlose Neubauwut zu Abrissen führt oder es bei Stillstand einfach zu lange reinregnet.

Hier oben Müther-Bauten in Binz auf Rügen (Aufnahmen 2012). Unten die Hyparschalen-Halle in Magdeburg (2011) und ganz unten der Ruderverein Dresden, von der Bergstation der Schwebebahn aus gesehen (2017). Das Gebäude entstand ungefähr zur gleichen Zeit wie die Halle in Magdeburg.


Freitag, 28. Juli 2017 -

Dresdner Elbhang Spätlese

Einiges bleibt nachzutragen über Dresden. "Der Turm", wohl literarisch bedeutsamstes Zeugnis der DDR-Geschichte aus dem Rückblick der Nach-Wende-Zeit, spielt zum großen Teil oberhalb des Blauen Wunders, die Straßen heißen Sonnleite, Hirschleite, Plattleite. Die Villen sind weitgehend restauriert, die Fenster erneuert, die Farbe aufgefrischt, hier lebt sich's gut. Im Lahmann-schen Sanatorium gab es Naturheilkunde für psychosomatische Beschwerden, bei Manfred von Ardenne Ganzkörperhypothermie zur Krebs-behandlung, und nur etwas weiter die Elbe runter war die Frauenklinik Johannstadt, wo Lilly Elbe ("Danish girl") die erste Operation zur Wandlung vom Mann zur Frau durchstand. Heute steht an der Stelle der Frauenklinik ein Neubau, und das Lahmannsche  Sanatorium ist noch nicht wieder ganz frsich, ein Teil ist zu Eigentumswohnungen und Lofts geworden, das Ärztehaus steht noch leer und harrt weiterer Renditeschaffung (siehe unten). . 

Ansonsten gruppiert sich eigentlich alles um die Frauenkirche. Semperoper, Zwinger, Brühlsche Terrasse, das Café im Cosel-Palais, und drumherum die schönsten Plattenbauten der Republik, alles nur, um die Frauenkirche ins richtige Licht zu setzen. Und vom Turm aus sieht man alles so klein, sogar der Kulturpalast schrumpft ins Normalmaß der DDR-Kleinbürgerlichkeit ("wir können auch pompös" - aber schön geht anders). Der Bericht über Dresden schließt daher mit der Frauenkirche (auf deren Vorplatz ja schon die Tanzperformance stattfand, die am Anfang der Dresden-Berichterstattung stand).

Nachgedanken: Licht am Ende des Tunnels. Die Standseilbahn bildet den Schlusspunkt des blogs für heute. Schön haben sie gebaut damals. Ich bin nicht so sicher, ob das die kommenden Generationen auch über unsere Neubauten sagen werden. Der alte Elbtunnel ist jedenfalls schöner als der neue, auch wenn dieser durch seine geschwungene Spurführung sei-nen Reiz hat. Und mir graust schon ein wenig davor, wie es sein wird, wenn die Köhlbrandbrücke ersetzt werden muss. Dresden weiß schon seit seinem Haus- und Hofmaler Canaletto, was es an seinen Bauten hat, und hoffentlich wird es sich lange daran erinnern.

 

 

 

 

 

 


Freitag, 21. Juli 2017: Das Blaue Wunder

 

Dresden hat es mit der Farbe: Gerade noch das "Weiße Stück" (s.u.), nun das "Blaue Wunder". Die 1893 fertiggestellte Brücke gilt als eines der Dresdner Wahr-zeichen, obwohl der Antrag der Linken, sie offiziell "Blaues Wunder" zu benennen statt Loschwitzer Brücke, im Stadtrat abgelehnt wurde. Einen Kilometer weiter ist die flache Waldschlösschen-Brücke, deren Bau 2009 überraschenderweise zum Verlust des Weltkulturerbe-Titels führte. Die Dresdner Elbtalwiesen wurden schon vor hundert Jahren durch das "Blaue Wunder" beeinflusst, und die Reaktion war schon 1933 ähnlich wie die der UNESCO 2009:

"Man sollte das wiedergutmachen, was vor 40 Jahren versäumt wurde und soll das Landschaftsbild wiederherstellen, wie es vor dem Brückenbau bestanden hatte. Dieses kann nur erreicht werden, wenn in absehbarer Zeit die Brücke abgebrochen und durch eine flachbögige Eisenbetonkonstruktion ersetzt wird",

befand damals ein Loschwitzer Architekt. Das Stahlfachwerk des Blauen Wunders finden heute viele ausgesprochen attraktiv und fühlen sich dadurch keinesfalls gestört. Zusammen mit den technisch ähnlich konstruierten, etwas jüngeren Schwebe- und Standseilbahnen entsteht auf dem Weg zum Weißen Hirschen eine Ensemble von Industriedenkmälern; im Verbund mit den Jugendstil- und Klassizismus-Villen des Elbufers durchzieht ein Hauch von "damals" das Quartier, der Geruch von Braunkohleheizungen weht in die Nase (virtuell), Straßenbahnen quietschen lauter, als sie es heute noch tatsächlich tun, und es gibt einen nostalgischen Schub, der erst durch Erinnerungen an Stasi und Feinstaub aus Öfen und Zweitaktern verblasst.

Neben der Ästhetik des Ortes gibt es hier auch noch alltägliches Leben. Am Pfeiler der Brücke hat ein Sprayer die Aufforderung hinterlassen, glücklich zu werden - und im Gegensatz dazu steht die verkehrspolizeiliche Mitteilung, dass die Straße des Friedens gesperrt sei, und das schon seit anderthalb Jahren. Kein Wunder, dass die ganze Weltlage eher ungemütlich ist. Wobei festzuhalten ist, dass die Sperrung schon vor dem Amtsantritt von Trump vorgenommen wurde. Und der Weg geradeaus zum Konsum ist auch noch frei, das dürfte helfen.


 

Sonntag, 16. Juli 2017 - Das weiße Stück

Vor der Dresdner Frauenkirche tanzte Janet Rühl am Wochen-ende das "Weiße Stück". In einem riesigen Kleid aus Ballonseide mit einem Reif tanzte sie auf dem Wind, stürmte das Pflas-ter, beherrschte die Lüfte. Ebenfalls in der Luft: Klänge, wie von Holzklöppeln auf dicken Saiten geschla-gen, monoton, poly-rhythmisch, hypno-tisch. Der Komponist erklärt uns hinterher, das sei zerreißender Baumwollstoff, er hat das Reißgeräusch elektronisch verlangsamt und gestückelt, und ich hätte doch auf seltene japanische Instrumente gewettet. Diese geniale Klangidee von Wolf Niedermayer schwebt im Raum, denn im Internet gibt es Wolf Niedermayer nicht. Außer der Angabe als Komponist des "Weißen Stückes" habe ich über ihn nichts gefunden. Aber er stand neben der Frauenkirche, echt, und hat ganz stolz über den Prozess dieser Komposition berichtet.  Manchmal ist das wirkliche Leben doch realer als das world wide web. Janet Rühl tanzt seit Jahrzehnten, man kann im Netz spannende Videos sehen vom "Weißen Stück" und anderen Choreographien, link siehe unten. Mit ihrem Auftritt will sie die Bewerbung Dresdens zur Kulturhauptstadt Europas 2025 unterstützen. Dresden tritt u.a. an gegen Magdeburg, Kassel, Nürnberg und die deutsche Kulturhochburg Hannover. Also wenn der weiße Tanz zum Entscheidungskriterium wird, wird Dresden es. Aber vielleicht gibt es noch andere Maßstäbe, was weiß denn ich. Ein klein wenig peinlich im Rückblick: Wir haben ihr ein paar Euro in die Hand gedrückt, weil wir den Auftritt super fanden, und andere Straßenkünstler hatten auch einen Hut auf dem Pflaster stehen. Ich glaube, Frau Rühl versteht sich nicht als "Straßenkünstlerin"...

http://www.sonusdos.de/DVideo.htm

Zwei Stunden später waren wir auf dem Turm der Frauenkirche und konnten von oben die Performance ein zweites Mal sehen. Schwer zu entscheiden, welche Perspektive  beeindruckender war. Für den Blick von oben sprach, dass man nicht den profanen Hintergrund der Baustelle hatte, der bei den Fotos auf Augenhöhe kaum auszublenden war. Andrerseits war die Intensität des Tanzes vom Erdboden aus sehr viel deutlicher spürbar. Beides zusammen ist am besten. Und wenn man die Videos auf der Homepage von Janet Rühls Compagnie "sonusDos" hinzuzieht, scheint doch der Blick von oben eine Dresdner Spezialität zu sein. Gibt's woanders nicht.


Sonntag, 09. Juli 2017 - Kassel: What Is It All About?

Zwölf Stunden documenta 14, das ist wenig, aber irgendwann erkennt man sowie nichts mehr. Documernta 14: Es gibt ja dicke Sonderhefte mit super Fotos von "Art" bis "Monopol" und "Weltkunst", da kann man alle Kunstwerke auf dem Sofa angucken. Das hier in m einem Blog sind subjektive Impressionen, ein paar nur, und das meiste fehlt natürlich: Der Parthenon mit den verbotenen Büchern, eine sinnlose Vergeudung von Kilometerlangen Plastikfolien zum Schutz vor dem Regen. Der Nachbau einer Münzpresse aus der Zeit der spanischen  Conquistadoren in Südamerika, Mischung aus Anklage und Handwerksmuseum. Die unrechtmäßig enteigneten Bücher aus jüdischen Regalen - aber ist denn das Herzeigen von Dingen, hinter denen ein unsagbarer Schrecken steht, auch gleich Kunst? Zwölf Stunden Nachdenken und Diskutieren über Kunst und Alltag, Gesellschaft und Kunst, und zwischendrin immer wieder ein flash und ein Innehalten und Staunen oder Spüren und die Gewissheit: große Kunst. Die documenta hat mal wieder alles. Zum Beispiel der Gang im ersten Stock der Neuen Galerie, hier links zu sehen, glücklicherweise ist kein Mensch zu sehen, ein heller sonnenscheindurchfluteter langgestreckter Raum mit Dutzenden von Papierfahnen, die von der Decke hängen. Ein paar sparam verteilte Gegenstände. Es erschließt sich mir nichts außer: Wow, was für ein Raum! Später lese ich, dass er von Pelagie Gbaguidie aus Benin gestaltet wurde und von der Dekolonialisierung der Bildung handelt. Die Künstlerin stellt abschließend dazu fest, "daß jedes menschliche Wesen ein Anrecht auf eine Wiege hat". In diesem Raum wäre jedes Kind gut aufgehoben. Für mich ein Highlight der documenta.

Die Natur, die Tiere und die Menschen tauchen immer wieder auf. Oben ist eine Art Mobile aus verschieden intensiv indigogefärbten Tüchern und Textilien. Die Geschichte von Indigo ist auch eine von Sklaverei und Ausbeutung. Und die Samin Maret Anne Sara setzt sich in der überraschend kunstaffinen Umgebung der alten Neuen Hauptpost mit der Katastrophe auseinander, die die Regierung durch Abschussquoten für Rentiere ihrem, Volk bereitet. Die Kette aus kleinen Rentierköpfen, modelliert aus Porzellan, das aus Rentierknochenasche gebrannt wurde. Knochenasche hatten schon die Chinesen vor Jahrhunderten für ihr fine bone china - Geschirr verwendet, und als die Engländer das Rezept dann auch rausgefunden hatten, wurde Knochen von geschlachteten argentinischen Rindern, Pferden oder Schafen verwendet, mit denen dort traditionell geheizt und gekocht worden war - und die Asche ging dann nach Europa. Knochenprozellan.

Die koloniale Tradition findet sich auch im verwendeten Material von Gemälden oder Installationen wieder. El Hadji Sy aus Senegal malt auf Leinwand aus ehemaligen Tee- und Pfeffersäcken (laut "Art" sind das aber leider schlechte Bilder...). Und Ibrahim Mahama aus Ghana hat zwei Gebäude mit Jutesäcken aus Kaafeetransporten verkleidet, eine kolonialismuskritische Version von Christo-Verpackungen.

Überhaupt sind viele von den Objekten, Installationen oder Bildern, die mir aufgefallen sind und die ich mitgenommen habe, eher aus fremden Ländern als aus der mitteleuropäischen  Heimat. Wrackteile zu Musikinstrumenten erweitert, Wollseile der chilenischen Künstlerin Cecilia Vicuna, Masken von indianischen Künstlern, der Aborigine Gordon Hookey mit dem unsereins leider immer nur an Marc Uwe Kling erinnernden Känguruh-Comic. Aber auch skandinavische Stickerei (beeindruckend: ein 23 Meter langer Stickerei-Streifen mit Bildern aus dem Leben der Samen), oder die Wohn-Röhren auf dem Friedrichsplatz, eingerichtet von Kassler Design-Studenten.  Der geflohene Syrer Hiwa K, der Erfinder des Röhren-Werks, sagt von sich selbst, er sei kein Künstler. Das zeugt von einer realistischen Selbst-Einschätzung, die auf der documenta nicht überall zu finden ist. Er sagt auch, er sei kein Intellektueller. Diese Selbsteinschätzung dürfte von den wenigsten documenta-Ausstellern geteilt werden. 

Die Gottschalk-Halle im Arbeiterviertel Nordstadt zeigt Videos, Installationen und Urban Art mit unter-schiedlich intensiver Aus-strahlung. In einer Ecke steht eine alte Schreibmaschine. Ein Blatt Papier ist eingespannt, und ob die darauf getippen Worte vom Künstler stammen oder von Ausstellungs-besuchern, weiß ich nicht. Aber sie zeugen von Hell-sichtigkeit: "Was tut ihr hier?" steht da, und "what is it all about".  Es ist drückend heiß, überall, drinnen und draußen, über dreißig Grad. Wir trinken etwas Kaltes vor dem Cafe Nordpol.

 

 

 

 

 

 


Sonntag, 25. Juni 2017: Grenzenlos in Seppensen

Im Richard-Heuer-Park beim Sniers Hus im Buchholzer Ortsteil Seppensen ist die Kunst auch schon angekommen. "Without Borders" heißt die Ausstellung von einem Dutzend Objekten, die im Park verteilt sind. Der eye-catcher ist der Kornkäfer von Harald Finke... Der großartige Grafiker und Konzeptkünstler hat die Form eines Käfers abgenommen und einen Käfer aus Haferkörnern in Polyester gegossen. Er verweist auf die Ausführungen von Rudolf Steiner, die Bewohner des alten Atlantis seien mit Hilfe von Pflanzen über dreißig Meter hoch geflogen. Erdöl ist ein Pflanzenprodukt, und Benzin und Kerosin sind also pflanzlich, und wir fahren und fliegen damit. Womit wohl alles bewiesen wäre. Nur: so geht das nicht weiter mit dem Öl, und daher ist der Kornkäfer ein Memento Mori, Symbol der Vergänglichkeit. Atlantis gibts ja auch nicht mehr.

Ein Stück weiter grinst einen fröhlich ein Klappschwanzkrokodil an, Relikt aus der Zeit, als die moorigen Sümpfe rund um Schneverdingen noch viel ausgedehnter waren als heute, aber doch auch oft nicht groß genug, dass der Schwanz ungeklappt in die Moorteiche gepasst hätte. Ein beeindruckendes Beispikel für eine gelungene Anpassung, damals.

Außerdem ist da ein Dreier-Bett mit Federkernmatratze im Rasen, es gibt carving-Art (gesägt aus Baumstämmen), und Steinskulpturen. Richard Heuer, parknamengebender Bürgermeister von Seppensen über Jahrzehnte nach dem Weltkrieg, hätte sich gewundert. Jetzt wundern sich die Hunde, und die Leine wird etwas kürzer gezogen. Komm, Arkan, komm, Daisy, wir müssen nach Hause.


Sonnabend, 24. Juni 2017: NordArt in Büdelsdorf

Jedes Jahr hält die moderne Kunst für mehrere Monate Einzug in Hallen und auf Wiesen der alten Carlshütte in Büdelsdorf, bei Rendsburg, an der Eider und unweit des Nordostseekanals. "NordArt" heißt die Ausstellung und blickt mehr nach Dänemark, Russland und China als in den Westen. Mich haben zwei Objekte des chinesischen Künstlers Xu Bing geflasht: zwei Phoenixe, einer männlich, einer weiblich, beide laut Deklaration aus "Wrackteilen". Es sind chinesische Flugdrachen draus geworden, aus Spatenblättern und Rotoren, Bagger- schaufeln und alten Fensterrahmen, Lochblechen und was sonst noch so rumlag. 2007 hat er angefangen und jahrelang weiter geschraubt, manchmal stockte der Nachschub, aber dann war die Installation  fertig und ging auf Weltreise über Massachusetts und Venedig nach Büdelsdorf. Dort haben die beiden 30 Meter langen Vögel eine Halle für sich, mit blutroten Wänden und Bambushain und zwei spiegelnden Wasserbecken. Die Wirkung ist ungeheuerlich, fand ich, aber im Foto nicht wirklich eins zu eins rüberzubringen. Ich kann nur versuchen, es in der Zusammenstellung deutlich zu machen, wie das Kleine zum Großen wird und wie der Schrott eine neue, lebendige und kraftvolle Wirklichkeit gewinnt, eine eigene Ästhetik und anders als die geschicht- und gesichtslosen Transformer aus Hollywodods trash-Filmen  durchaus eingebunden ist in Mythologie und Industrie, ohne dass die Spannung etwas zerreißt - es brizzelt nur in der Luft, man wartet auf einen Flügelschlag und lodernde Flammen aus den Feuerlöschern des Kiefers.

Vielleicht kann man es den Spiegelungen entnehmen, auf denen man am wenisten erkennt und womöglich deswegen am meisten sehen kann. Oder den Einzelheiten, die die Struktur erkennbar machen und die Kleinigkeiten, aus denen auch ein Phönix besteht. Phönix ist bekanntlich der, der vervrennt und aus der Asche neu ersteht. Heuzutage darf man auch an Pokemons denken oder Conchita Wurst, die mit "Rise Like A Phoenix"  2014 den EST gewonnen hat. Oder an Büdelsdorf, das hätte man ja auch nicht gedacht.

Auf einer foto-Homepage nicht so beliebt: das Zugeständnis, dass ein virtueller Video-Rundgang vielleicht einen interessanten (anderen) Zugang bietet. Hier findet man auf der zwölften oder fünfzehnten Station (durchklicken!) die Halle 1, wo die Installation aufgebaut ist. Sieht nicht schlecht aus...

http://www.mein-vr.de/nordart/2017/de/


Sonntag, 28. Mai 2017: Fehmarn siebenundvierzig Jahre später

1970 hat hier um die Ecke Jimi Hendrix eines seiner letzten Konzerte in der frischen und feuchten Luft von Fehmarn gegeben. Zwei Wochen später war er tot. Jetzt ist das Wetter besser, die Musik ist nicht mehr, was sie einmal war, wir sind mit dem Wohnwagen gekommen statt wie es sich damals gehört hätte mit dem Zelt auf dem Rucksack oder mit dem Bulli. Der Campingplatz Flügger Strand ist auf einnehmende Weise abgeschrabbelt, Der Küstenstreifen mit blühenden Wiesen und Heckenrosen hat dänischen Charme, und der Wind hält sich angenehm zurück. Wir beschränken uns an dem verlängerten Wochenende auf die Erkundung des Südwestzipfels zwischen Orth und Vogelschutzgebiet Wallnau, mit dem Flügger Leuchtturm und dem Jimi-Hendrix-Gedächtnisstein. The Wind Cries Mary.

Das Wallnauer Vogelschutzgebiet liegt idyllisch in den Wiesen und ist bei unserem Besuch Szenario einer Natur, die es in sich hat: Der Fuchs ist mitten unter den Gänsen und scheint sich dort ziemlich wohl zu fühlen. Allerdings hat er in der Zeit, die wir überblickten, keine erwischt, es gab also keinen Grund für Schießgewehre und Totschießerei. Die Brandgänse haben weiter gebalzt, der Sandregenläufer tippelte auf und ab, und die Blesshühner zeigten ihre ganze Plumpheit sofort beim Verlassen des Wassers (schwimmend sehen sie eher zierlich aus, aber ihre Wasserverdrängung ab Hüftgürtel ist erheblich).


Freitag, 19. Mai 2017: Lokschuppen revisited

Der Buchholzer Lokschuppen gehört zu den Bauten in unserem Städtchen, die ich regelmäßig besuche. Es ist eigentlich fast das einzige Industriedenkmal hier, und das verkommt zusehends. Zwar ist das Gebäude kürzlich (als das alte Bahnmitarbeiterheim abgerissen wurde) durch einen Bauzaun gesichert worden, aber das hält den Zahn der Zeit nicht ab. Die Drehscheibe ist schon fast weggerostet, und das Gebäude steht mal wieder überwiegend leer. So sieht es aus, wenn ein Gemeinwesen seine Geschichte nicht achtet. Der Bahnhof ist ja auch verkommen, das Wahrzeichen der Stadtentwicklung (Bahnkreuzungspunkt der Strecken von Bremervörde nach Lüneburg, von Bremen nach Hamburg, nach Soltau und mittendrin ein Bahnhof mit wunderschönen geschwungenen Holzdächern über den Bahnsteigen, alles weg). Was bleibt, sind die einmaligen, weil völlig ungeplanten und unplanbaren Zeichen des Alterns: Die Fäulnisprozesse und die Verwitterung und der Zerfall als ästhetischer Prozess. Fenster in die Vergangenheit.

Kunst am Bau ist auch zu finden: Zum Reparieren der Fensterlücken wurden Scheiben aus der Glasmalerei des Kindergartens verwendet, die Maus, Pikachu, Gänse und Schmetterling,  und ein Kauffahrtschiff vom Weltmeer.


 Freitag, 12. Mai 2017

 

Meine Heimat – Fortsetzung: Keksfabrik und Munitionsdepot

 

 

 

 

 

„Mein“ Wathlingen, das war Ende der fünfziger Jahre auch die „Kolonie“ mit dem Kalibergwerk (Schacht Niedersachsen). Mein Freund Bernd wohnte da, und wir rutschten auf Pappkartons die Abraumhalde runter (Vorsicht! Gefährlich!). Wenn wir nach Hänigsen ins Schwimmbad fuhren, kamen wir im Wald an der „Keksfabrik“ vorbei. Das war ein Außenlager der Keksfirma Bahlsen, die in Hannover den Leibniz-Keks und die Salzstangen („Salzletten“) erfunden hatten. Hier im Wald lagerten sie Backwaren und Maschinenteile. Im Schwimmbad wehte aus blechernen Lautsprechern "Apache" von den Shadows über den Platz.

 

Bis in die neunziger Jahre wurde Salz aus den Schächten Riedel (Hänigsen) und Niedersachsen (Wathlingen) geholt. Dann lohnte sich das nicht mehr und die unterirdisch verbundenen Schächte wurden stillgelegt. Zunächst gab es einen Plan, den Schacht mit Sondermüll zu verfüllen. Das wurde verworfen und man entschied, alles zu fluten (eine übliche Methode, um zu vermeiden, dass die Schächte nach und nach einstürzen und sich die Oberfläche zu stark senkt). Der BUND warnte vor unabsehbaren Oberflächensenkungen, das Landesbergamt genehmigte trotzdem.

 

Die Halde soll abgedeckt werden, weil der Regen zu viel Salz aus dem Abraum löst und man gar nicht weiß, wohin mit der Salzlauge (außer derzeit den Schacht zu verfüllen, das passt ganz gut, weil die salzige Lösung nicht droht das tragende Salzgestein in den Schächten aufzulösen). Wenn man nur Wasser aus dem Bächlein Fuhse nehmen würde, wären die tragenden salzhaltigen Stempel schnell aufgelöst. Also soll demnächst Bauschutt auf die ganze Halde, viele Meter dick, es soll um Z2-Schutt gehen, das ist an der Grenze zu deponiepflichtigen Materialien. Man könnte da auch freigemessenen Bauschutt verwenden, der beim Rückbau von Kernkraftwerken anfällt. Da kann einem der Appetit schon vergehen.

 Aber zurück zur „Keksfabrik“. Ursprünglich wurden dort keine Kekse gelagert. Gebaut wurden die dreistöckigen Blocks im Wald als Heeresmunitionsanlage Muna Waldlager. Dazu gehörten auch die Baracken, die heute noch neben der Laborfabrik Holzkötter inm itten der Felder liegen und Kleingewerbe beherbergen. Damals, Ende der dreißiger Jahre, wohnten hier einige hundert Zwangsarbeiter, zuletzt vor allem Ukrainer. Und in der Muna wurde Munition produziert. Gegen Ende des Krieges verlagerte man immer größere Teile der Produktion und der Lagerung unter Tages, weil man dort sicherer vor Luftangriffen war. Wie viel Sprengstoff und Chemikalien dort am Kriegsende gelagert wurden, weiß wohl niemand so genau.

Nach dem Krieg wollten die Tommys, wie die englischen Besatzungssoldaten genannt wurden, das Bergwerk räumen. Dabei gab es eine Riesenexplosion, über achtzig Menschen starben im Schacht. Die Räumung war damit gescheitert, man verschloss die Gänge und Kammern mit den Munitionsvorräten und ging zur Tagesordnung der Kaliförderung über. Die Gebäude der Muna wurden an Bahlsen übergeben. Hier lagerten Salzletten und Erdnussflips (oder so). Der Name der Firma änderte sich (einer der Bahlsen-Brüder hatte Lorenz geheißen, und heute heißt die Firma „Lorenz Snack World“). Die Altlasten störten im Verlauf der Zeit aber doch, es musste einiges saniert, Phosphor entsorgt werden, und seit den neunziger Jahren stehen die Gebäude leer, Industriebrache. Die Thöse fließt in aller Ruhe vorbei und nimmt mit, was sie kann. Keiner will wohl so genau wissen, ob etwas (und wenn ja, was genau) schon im Grundwasser angekommen ist.

Und so treffen auch „Keksfabrik“ und die Altlasten der Muna mit der Sicherung der Abraumhalde zusammen. Die Schächte werden seit 2009 geflutet. Mittlerweile steht das Wasser bis in die Schichten, wo die Kammern mit der Munition verschlossen wurden. Wasserdicht verschlossen? Was wird passieren, wenn sich die explosive Chemie löst, wo wandert die Giftbrühe hin, was gerät ins Grundwasser? Eine Bürgerinitiative beobachtet die Planungen um Abraum und Bergwerk. Eigentlich wäre ein Verfüllen des Haldenmaterials in die Schächte die einzige wirklich sichere Methode, aber, so ein Sprecher des Betreibers K&S, viel zu teuer. Ob sich die Bürger eine Deponie light andrehen lassen, ist noch offen.

 

Derweil kann man von Riedel über den Haltepunkt „Waldlager“ nach Wathlingen und weiter bis Ehlershausen mit der Draisine der Kalibahn rollen. Auf dem Kleinbahn-Betriebsplatz steht auch ein Schienenbus wie der, mit dem ich immer zur Schule nach Celle gefahren bin. Im Kopf spukt mir herum, dass sich "Kalibahn" und "Taliban" irgendwie miteinander kombinieren lassen könnten. Das bereitet Ihnen Zahnschmerzen?  Abhilfe bieten die örtlichen Dienstleister: „Mit der Draisine der Kalibahn / kann man auch zum Zahnarzt fahr'n“, reimt eine Praxis aus Ehlershausen  auf einem Reklameschild. Man kann sich mit allem arrangieren.


 

Montag, 08.05.2017

Meine Heimat - Die Grenzen der Kindheit

 

Wenn ich wieder mal in das Dorf komme, in dem ich die ersten Lebensjahre verbracht habe, erkenne ich manches wieder. Das Schulhaus, in dem wir gewohnt haben, der Hof des Großbauern links davon, auf der anderen Seite das abgerockte Haus von Bauer Wichmann, das nun schon länger leersteht. Die Dorfstraße und der Weg zum Osterberg. Schon fast außerhalb meiner Welt, nur mit meinen Eltern mal aufgesucht: die Aller, zwei-, dreihundert Meter über die Wiesen und den kleinen Deich. Als Verkehrsmittel kannte ich nur den Bus, der einmal am Tag nach Celle fuhr.

 

 

 

Nur einen Kilometer weiter, kurz vor Flettmar, gibt es noch immer die Eisenbahnbrücke über die Aller. Die Strecke führte von Gifhorn nach Celle und wurde in den achtziger Jahren eingestellt. Ich wusste zwar auch schon als klerines Kind, dass man zu Fuß nach Flettmar gehen musste, um dort in den Zug steigen zu können. Aber ich hatte ihn nie gesehen, die Brücke auch nicht, hier war meine Kindheit an ihre Grenze gestoßen. Der Bahndamm ist zugewachsen, die Brücke verrostet und vergittert (zumindest an dem meisten Stellen...), und drumherum wie früher Wiesen und Felder. Bei trübem Wetter wie an dem Tag, an dem ich neulich mal wieder da gewesen war, wirkt sie wie ein uneingelöstes Versprechen, wie eine unklare Sehnsucht nach Ferne und nach dem Leben und Treiben der Städte, der Welt, das hier im Niemandsland zwischen Celle und Gifhorn nicht zu finden war. Diese Brücke zu finden, zu umrunden und zu erkunden war eine Erweiterung meiner Kindheitswelt, die mich wieder ganz aufgeregt machte, als wenn ich ein Geheimnis löste, das irgendwie immer mitgeschwebt war. Eine Brücke über die Aller! Hier! Ich hatte es doch geahnt... nein, hatte ich nicht. Aber schön, dass ich sie jetzt kenne.

 

Dass es auch ein paar Kilometer weiter noch Welt gibt, immer mehr Welt, habe ich seit Mitte der fünfziger Jahre nach und nach  gelernt. Kieswerke, Traktorhändler, Kopfweiden. Je näher die Welt am Schnittpunkt zwischen Celle und Gifhorn dran ist, desto heimatlicher ist sie mir. Und je weiter weg davon, desto aufregender wird sie, die Welt. So richtig weit weg habe ich nie gewohnt, maximal hundertzwanzig Kilometer, soll ja auch nicht zu aufregend werden im Leben. 


Montag, 17. April 2017 : Osterturnier am Junkernfeld - Schach der Blume!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Schachbrettblumen blühen in diesem Jahr besonders groß (wie ich finde), von der Anzahl her vielleicht etwas weniger üppig als in manch anderem Jahr, aber immer wieder erfreulich. In der Unteren Seeveniederung bei Hörsten sieht man sie über'n Zaun, das ist Naturschutzgebiet. Etwas weiter weg bei Stelle wachsen sie auf der normalen Wiese, was dem Fotografen entgegenkommt. Laut Informationstafel ist das Gebiet an der Seevemündung das größte Vorkommen der bedrohten Blume in Deutschland, wikipedia hat da etwas andere Informationen und sieht die Gegend zwischen Obersinn und Hintersinn, ähh, nein, Sinnwiesen, also direkt auf der hessisch-fränkischen Grenze, ganz vorn. Wie auch immer, ein paar tausend sind es hier, und das sollte reichen. Es werden auch wieder mehr, seit 2002 eine strenge Regulierung der Landwirtschaft und Nutzung der Wiesen begonnen hat, damit die empfindlichen Blümchen es nicht so schwer haben wie in den Jahrzehnten davor. Da war zwar das Ausbuddeln und in den heimischen Garten versetzen auch schon verboten (seit 1936), aber die massivste Bedrohung kam nicht von der Seite der Kleingärtner, sondern von der Landwirtschaft mit ihrer Chemie und immer intensiveren Nutzung. Deswegen ging es Ende des letzten Jahrhunderts auch trotz der Schutzbestimmungen bzgl. Blumendieben immer schlechter. Jetzt berappeln sie sich wieder, und erst nach der mehrwöchigen Blütezeit ist dann eine nach der anderen schachmatt. Dann sieht man (unten rechts) die gelben Staubgefäße, das Innenleben der Blüte, und dann ist es vorbei.


Sonntag, 9. April 2017 - Sommertag im Pietzmoor

Das Pietzmoor bei Schneverdingen ist in tausend Jahren jeweils einen Meter gewachsen. Mittlerweile ist es über sechs Meter dick. Seit 1984 wird kein Torf mehr abgebaut, sondern das Moor wird wieder vernässt. Bohlenwege führen zwischen schwarzblau schillernden Moorteichen entlang, Linda hat mit ihrem Seminar mal gemessen, dass das Wasser hier saurer ist als Zitronensaft. Etwas abseits stellen wir mit veganem Kartoffelsalat und Schoko-Möhren-Kuchen Manets "Frühstück im Grünen" in einer bürgerlicheren Version  kongenial nach. Auf den Wiesen rundherum haben die Bauern riesige Findlingshaufen zusammengesammelt. Die Steine wachsen bekanntlich aus dem Boden heraus, das ist Geophysik. Oder so. Man muss aufpassen, sich so kurz vor Ostern keinen Sonnenbrand einzufangen. Eine freundliche Seite des Klimawandels.


Sonntag, 26. März 2017 - Die Zeit steht still.

 

 

 

Hunderte von Jahren haben sie hier gelebt und gearbeitet, seit zwanzig Jahren steht das Haus nun still und leer. Das Stroh ist noch gestapelt, das Kühlaggregat von Alpha Lavall agrartechnik rostet vor sich hin, und eine alte Sackwaage steht auch noch herum. Das Radio (Saba Typ Villingen) dürfte von Anfang der fünfziger Jahre stammen, auf der Skala die ganzen Sender der Rundfunkgeschichte: Trondheim, Hilversum, Beromünster, Budapest, RIAS Berlin, Sottens, Saarlouis... An einer Wand Tierfotos aus einer Zeitschrift. Die Atmosphäre ist gedämpft, achtlos alles liegen geblieben. Wenn es schon der Vergänglichkeit preisgegeben wird, könnte es nicht doch auch mehr Respekt geben? Ich weiß es nicht. Wer hier zuletzt (wohl allein) gelebt hat, war sehr für sich, so wirkt es. Vorzugsmilch direkt vom Hof an der Tür abverkauft: ein Liter, anderthalb Liter am 18. November 1996, steht auf dem Zettel. Jüdische Friedhöfe werden nicht gepflegt, weil das Ritual eine unbegrenzte Totenruhe vorsieht, nichts wird eingeebnet oder entfernt. Die Gräber werden von Gras und Efeu überwachsen. Hier sind es Spinnweben und es ist der Staub von Getreide und Mehl. Mögen sie in Frieden ruhen. Wenn nicht noch ein kleines Wunder geschieht und dem Haus, seiner Geschichte und seinen Menschen mehr Respekt entgegengebracht wird, als es nur verrotten zu lassen.


 

Sonntag, 26.02.17 - Arizona revisited Manchmal verbinden sich aktuelle Zeitläufte, politische Strukturprozesse und Urlaub. Das ist immer ein schönes Zusammentreffen, zeigt sich doch darin, dass auch die arbeits- und pflichtenfreie Zeit nicht im luftleeren Raum wabert, sondern Teil unserer Welt ist und alles hängt mit allem zusammen. Jetzt zum Beispiel: Das Kohlekraftwerk bei Page am Lake Powell ist eines der größten im West-teil der USA. Es liegt in Sichtweite des Glen-Canyon-Staudamms und pro-duziert Strom aus Kohle, der Staudamm Strom aus Wasserkraft des Colorado River. Das meiste davon geht nach Las Vegas, um dort die Glitzerfassade und die Klimatisierung zu betreiben. Eine Millionenstadt in der Wüste, heiß und trocken, und es geht immer erst nachts so richtig los, wenn alles beleuchtet werden muss – das kostet Strom. Aber der aus Kohle lohnt sich nicht mehr, Fracking-Gas ist billiger, und das Kraftwerk im Navajo-Gebiet wird stillgelegt. In zwei Jahren ist Schluss. Auch die Kohle-Rettungspakete von Trump können das Werk wohl kaum retten, gerade erst hat er die Wasserschutzrichtlinien für Kohlekraftwerke außer Kraft gesetzt, die Obama erlassen hatte. Die Navajos könnten das Werk auch nach 2019 weiter betreiben, liegt ja auf ihrem Territorium, da haben sie ein paar Rechte drauf. Aber vielleicht war ein Kohlekraftwerk in the middle of nowhere sowieso noch nie eine so richtig gute Idee. Um die Ecke liegt der Antelope Canyon. Das war das Größte, was wir auf unserer ganzen USA-Reise 2015 gesehen haben. Aber man kann dort mit den Touristen wohl doch nicht ganz soviel verdienen wie mit Kraftwerken. Mal sehen, was die Navajos machen.

Antelope-Canyon, Steh-auf-Paddler auf dem Colorado River, und der Staudamm mit dem Carl-Hayden-Visitor-Centre, in dem sich die Strommasten spiegeln, die den Strom vom Kohlekraftwerk und vom Staudamm wegbringen. Ansonsten ist es am Lake Powell übrigens wirklich schön.


Montag, 30. Januar 2017: Winter am Jadebusen

 

 

Natürlich wieder in Dangast, wie jedes Jahr. Strahlende Son-ne, nur der schnei-dende Wind fehlt irgendwie ein biss-chen... oder vielleicht doch nicht. Wilhelms-haven war auch noch da, alles, wie es sich gehört. Dieses Mal ohne Rhabarber-kuchen im Kurhaus, es hatte mittags zu leckere Fischbrötchen gegeben. 


Einer geht noch: Der Blick aus dem Hotelfenster - und ein link zum Reise-Soundtrack (ich war beim Xaver in der Essener Gemarkenstraße, zu Recht empfohlen im Reiseführer, aber es gibt so viele Currywurstbuden hier) - kopieren und in Kopfzeile einfügen, und hören!

https://youtu.be/apdc2tZCpKg?list=RDapdc2tZCpKg


Mittwoch, 18. Januar 2017: Rückbesinnung I - LaPaDu

Das Hüttenwerk Meiderich im Duisburger Norden (Land-schaftspark LaPaDu) kann jederzeit besichtigt werden, umsonst und draußen. Auf den Hochofen fünf kann man sogar rund um die Uhr rauf-klettern, wenn das Wetter es zulässt. Siebzig Meter hoch findet man eine tolle Fernsicht und Blick auf die Schlote, die zwar weniger sein mögen als vor fünfzig Jahren, aber sie senden immer noch riesige Wolken in den Himmel, bei den man nicht immer so sicher ist ob man genau wissen will, was da denn nun drin ist.  Sicher nicht nur harmloser Wasserdampf...  Andrerseits: Ich bin mit dem Auto da, und die Bleche für die notwendige Karosserie wurden ja auch irgendwo in einem ähnlichen Werk gewalzt und geformt. Das Kühlwerk (oben) gehört mittlerweile auch zu den am Wochenende abends beleuchteten Objekten, das habe ich leider nicht sehen können, so illuminiert. Ich glaube, es lohnt sich (zwischen Kitsch und Rost).


Mittwoch, 18. Januar 2017: Rückbesinnung II Gasometer Oberhausen

Okay, die Sonne hat geschienen. Das konnte man nicht an allen Tagen sagen. Aber der Wind pfiff ganz gehörig oben auf dem Gasometer, hundert Meter über dem Boden, doch er fegte auch den Horizont klar. Der alte Gasbehälter dient seit langem als Ausstellungsraum beson- derer Art. Wenn man oben drauf steht, stellt sich das westliche Ruhrgebiet aus. Innen drin wechseln die Ausstellungen. Zur Zeit sind Bilder aus der Natur dran, Makrofotografien und Tier-bilder, die Wunder der Welt eben. Und das oben und das innen steht in einem ganz besonderen Verhältnis. Wenn man die Stahlwerke sieht und die Großchemie und die Einkaufszentren (das CentrO neben dem Gasometer soll das größte Europas sein), dann staunt man darüber, was der Mensch so alles zustande bringt. Welche komplexen technischen Prozesse entwickelt wurden, um unsere vielfältige Plastikwelt bunt zu machen. Innen drin geht das Staunen weiter, viel weiter. Was diese Natur sich alles hat einfallen lassen, welche Formenvielfalt und welche Chuzpe, unglaublich: Der Anglerfisch verwandelt nicht nur seine Farbe je nach Umgebung, sondenr auch seine Form. Und dann -rrapppss- schnappt er in Millisekunden zu und verschlingt Beute bis zum dreifachen seines Körpergewichts. Ich weiß nicht, ob ich mir das wünschen sollte, aber beeindruckend ist es schon.


Donnerstag, 12. Januar 2017 - Red Dots Essen

Jedes Jahr können Unterneh-men ihre Produkte einreichen, um sie von der Red Dot Jury begutachten zu lassen: Sind sie funktional, innovativ, nach- haltig, sinnlich? Von den einge-reichten Produkten erhalten 1,5% das Siegel „Best of the Best“. Die 2016 ausgezeich-neten Artikel sind in der Essener Zeche Zollverein im Design Museum ausgestellt. Der Switch an dem Ganzen ist das Ausstellungsgebäude. Es ist das Kesselhaus am Schacht XII, eine dieser genial proporti-onierten Bauhaus-Hallen, in denen hier die Kohle-Industrie untergebracht war und nun das Weltkulturerbe verwaltet wird.

Auf vier Ebenen rund um den eisern-rostigen Kern geht man wie auf den Bühnen der Hochöfen, es bleiben Durchblicke nach oben und unten frei, das Gebäude wirkt wie ein sachlich eingefasstes Industrie-Fossil. Der Entwurf stammt von Norman Foster, der hier beweist, dass er nicht nur immens nach außen wirkende Bauten wie die Reichstagskuppel, den Commerzbanktower in Frankfurt oder die Gurke in London kann, sondern auch etwas, was eher nach innen strahlt. Ist es funktional, innovativ, nachhaltig, sinnlich? Aber ja! Und wie. Es ist Best of the Best. Eine derart geniale Verbindung von Ausstellungsraum und Ausstellungsstücken habe ich kaum je erlebt. Es sind ja durchweg Alltagsprodukte aus über zwanzig Kategorien: Küchenutensilien, Handwerkszeug, Medizingeräte, Brillen, Fahrräder inkl. Helme, Fernsehgeräte, und und und... Hier wirken sie meist wie Kunstobjekte.

Das Einzige, was ich nicht entdeckt habe, war Sound-Design. Die Telekom-Tonfolge, der Samsung-Pfiff, sprechende Ampeln, die synthetische Navi-Stimme... Hier hörte man nur den sound eines eher mäßig interessanten Werbe-Videos.

 

Gutes Design ist immer praktisch und schön. So praktisch und schön wie der Rote Punkt Ende der sechziger Jahre, wo Autofahrer mit dem Aufkleber signalisierten, dass sie andere Leute mitnehmen, um etwas gegen die ständig steigenden Preise des Öffentlichen Nahverkehrs zu tun. Heute sagt man nicht mehr roter Punkt. Heute sagt man Red Dot. Yeah man.

 

Übrigens: Drumherum ist es auch schön. Nicht immer innovativ, oft sinnlich, meist praktisch oder einfach so. Und wenn es nur ein Apfel ist, der unvermutet an einer alten Armatur hängt (unten Mitte), wie in einem technischen Paradies (und wo versteckt sich die Schlange?).


 

Mittwoch, 11. Januar 2017

Zwischen Hoesch und Hornbach

Die große Industriebrache hinter dem Hoesch-Museum in Dortmund wollte ich erkunden. Ging aber nicht wegen Zaun. Das Museum selber hatte erst ab 13 Uhr geöffnet. Beam- tenmentalität. Also wan- derte ich an Zaun und Mauer entlang, unter der Bahnunterführung durch, dann kam rechts das Hornbach-Zentrum Dortmund. Baumarkt, REWE, Lidl. Ich hatte nicht vor, die vierspurige Intercity-Bahnstrecke zu überqueren, die nun zwischen mir und der Hoesch-Brache lag. Aber ein Pfad führte zu den Bahngleisen, die diesseits zuwuchsen – Zelte als Sommerwohnsitz für Wohnungslose, Bauschuttentsorgung für Kleingewerbler (da war offensichtlich in einer griechischen Taverna renoviert worden), und nebenan schnaufte der Bagger, alles platt machen, alles weg, alles neu...

Die große Halle von Hoesch/Thyssen/Krupp hatten Fans der Desperados besprüht, mit der notwendigen Schlussformel ACAB – all cops are bastards. Das sagt man nicht. Davon abgesehen sind die Desperado-Hools wohl wirklich ziemlich verlassen, von Gott und allen guten Geistern, was sie aber nicht wirklich interessiert, sie würden auch Kellergeister nehmen. Bei dem Palettenlager gab es eine kleine Bühne, wirkte wie Soul Kitchen in Wilhelmsburg, man fühlte sich wohl und hatte das Aroma von Ganja in der Nase. Zwischen Hoesch und Hornbach. Es gibt Schlimmeres.

In der Zwischenzeit (dieser Nachtrag stammt vom 30.Mai 2017) habe ich mehr gelesen über den Stadtteil, in dem ich hier rumgestromert bin. Hoher Ausländeranteil, Drogenhandel und Prostitution, Kriminalität allenthalben - davon hhabe ich eigentlich nicht viel mitgekriegt. "Als Angela Merkel von "No-go-Areas" in Nordrhein-Westfalen sprach, meinte sie Viertel wie die Dortmunder Nordstadt", schrieb die ZEIT. Ich weiß nicht. Kommt mir übertrieben vor.

Die Stühle in dem frisch vom Laub befreiten Berber-Kleingarten waren für Walter und Ehrhardt. Der blaue für Gäste. Man weiß ja, was sich gehört. Und der Autoverwerter nebenan hatte einen Transit erstanden, der noch ein paar Eimer grüne Farbe im Kofferraum hatte. Konnte man alles noch brauchen.

 

 

 

Mittwoch, 11. Januar 2017

Voll verzinkt

Der Ausflug begann mit einem elektronischen Irr-tum. Ich wollte in die Bliersheimer Straße in Duisburg Rhein-hausen, weil da einige alte Villen aus der Zeit der Stahl-werke in Rheinhausen mehr oder weniger saniert bzw. verfallen rumstehen. Das Navi kannte in Duisburg zwei Bliers-heimer Straßen. Ich klickte auf gut Glück eine an. Es war die falsche. So kam ich nach Wanheim-Angerhausen, einem Viertel, von dessen Existenz ich bisher nichts ahnte. „Irrtümer haben ihren Wert / jedoch nur hier und da / nicht jeder, der nach Indien fährt / entdeckt Amerika“  hatte Erich Kästner gedichtet. So entdeckte ich die Landmarke „Tiger and Turtle - Magic Mountain“ im Angerpark.

 Der Park ist neu. Bis in das Jahr 2005 stand hier die Zinkhütte MHD, die eine Zeitlang zur Lurgi gehört hatte, später wechselnde Fonds auf Barbados als Besitzer angab – bis nach einem Jahrhundert dauerdrohender Pleite (es ging immer nur mit Subventionen) eben 2005 Schluss war. Den Rest regelte die öffentliche Hand. Denn das Gelände der MHD war eine Zeitbombe, randvolle Tanks voller Schwefelsäure drohten sich in den unmittelbar benachbarten Rhein zu entleeren. Das Werk war ja schon immer für Umweltvergiftungen gut gewesen, Zinkgewinnung ist nun mal kein Zuckerschlecken. Weiße Zinkstäube hatten die Filteranlagen ungestört verlassen, bis in den sechziger Jahren neue Produktionsmethoden eingeführt wurden. Aber Zink war nun mal keine seltene Erde, damit war nicht viel Geld zu verdienen, und auch die Nebenerwerbszweige wie Trennschmelzanlagen zur Verwertung geschredderter Autos brachten keine Wende. Für Umweltschutz war da nie viel übrig gewesen.

 Jetzt wurde das Werk abgerissen, die nicht gesondert zu entsorgenden Altlasten wurden in eine fachgerecht gesicherte Deponie unter dem geplanten Angerpark eingelagert, und oben auf dem Berg entstand die Skulptur „Tiger and Turtles“ des deutschen Künstler-Duos Mutter&Genth. Die Künstler leben in Duisburg und Hamburg. Ich fühlte mich also gleich wie zu Hause. Mit ihrer (bis auf den Looping) begehbaren Achterbahn-Konstruktion wollten sie eine Skulptur schaffen, die keine Fragen auslösen oder beantworten sollte. Das fand ich nachvollziehbar: Bisher hatte noch keine Achterbahn, wo auch immer, bei mir Fragen ausgelöst (weder nach dem woher und wohin, noch nach dem weshalb, auch nicht nach dem Verbleib der Siebener- und Neunerbahnen). Nun also hier diese Skulptur, die ich zufällig von der Straße aus sah und die mich sofort fesselte. Ich marschierte den Berg hoch, ignorierte den Regen, respektierte den Wind (in Böen an die siebzig km, fühlte ich), und bestieg „Tiger and Turtle“. Die Skulptur selber war ein Augenschmaus, wie sie sich wand und drehte, und doch (bis auf den Looping) immer mit Stufen betretbar. Grandios aber war der Blick durch die Schlaufen der Achterbahn auf die Rest-Industrie am Rheinufer, ein Hüttenwerk von Krupp Mannesmann, und ein kleiner Rest der Zinkfabrik, der zu Befesa gehört. Das ist ein Unternehmen zur Verarbeitung von industriellen Resten aus der Zinkverarbeitung, von Aluminium, Salzschlacken und so weiter. Gehörte bis vor kurzem zu einer spanischen Gesellschaft und seither einem deutsch-schwedischen Fonds. O nein, nicht schon wieder. IKEA-Kamprad soll auch mit von der Partie sein. Na, das kann ja eine Achterbahnfahrt werden. Aber die Skulptur ist echt toll. Da denkt doch am liebsten keiner mehr an gezinkte Karten. Oder wie sonst Gewinne in private Taschen gelenkt werden und die Folgen entsorgt die Allgemeinheit. Wirklich: eine tolle Skulptur. Warum bloß mag sie „Tiger and Turtle“ heißen? Das Material für die Konstruktion ist Stahl und Zink. Passt gut zum Untergrund.

Dienstag, 10. Januar 2017

Die alte Zechensiedlung stirbt

 

Die Stadt Gladbeck war mir bisher hauptsächlich bekannt durch das dort seinen Anfang nehmende Geiseldrama aus dem Jahr 1988. Banküberfall auf die Deutsche-Bank-Filiale in Gladbeck-Rentfort, Geisel- nahme, Entführung eines Linienbusses, drei Menschen sterben (mindestens einer erschossen von den Ent-führern). Die überfallene Bank-filiale befand sich im Erdgeschoss eines 15ge-schossigen Wohnturms, der heute leersteht. Seit sechs, acht Jahren wiederholen sich die Ankündigungen, das Gebäude werde saniert, neue Geschäfte werden angesiedelt (keine Deutsche Bank mehr?), und dann passiert wieder drei Jahre nichts.

 

Das scheint in Gladbeck keine Ausnahme zu sein. Im Bereich der Bohnekampstraße im Stadtteil Zweckel stirbt eine alte Arbeitersiedlung einen langsamen Tod. Gladbeck nahm mit dem Beginn des Kohleabbaus um 1870 seinen hundertjährigen Aufschwung – 1970 wurde die letzte Zeche wieder geschlossen.

Die Siedlung Bohnekampstraße mit ungefähr 150 Wohnungen gehörte dann der Deutschen Annington, seit der Jahrtausendwende stand sie leer. Die Deutsche Annington (größter deutscher Wohnungseigentümer) benannte sich wegen ihres schlechten Rufs in Vonovia um und verkaufte die Siedlung an eine Immobiliengesellschaft aus Marl. Hoffnung keimte auf, Bagger rückten an, die Wohnungen wurden besenrein bereitet, die Häuser eingerüstet. Dann geschah jahrelang nichts, angeblich habe es keine Baugenehmigungen gegeben, dann aber doch, aber nun wurde die Geschäftsführerin der Immobilienfirma („Ich bin eine Schlesierin und habe keine Angst vor Arbeit“) entlassen und dann meldete die Firma Insolvenz an. Die Häuser sind verrammelt, die Fenster kaputt, Treppengeländer sind demoliert, Decken brechen ein. Meterhohe Brombeerdickichte sichern den Jahrhundertschlaf. Das Gebäudeensemble liegt im Koma.

Vor zwei Jahren fand man im Keller eines der Gebäude eine Leiche. Es handelter sich um einen Mann, der früher als Bewohner der Siedlung gemeldet war. Konnte er sich nicht trennen? In dem imposanten Innenhof hat sich jemand eine muggelige Ecke eingerichtet, mit Sitzbank aus dem Auto und Grill. Ansonsten gibt es keine Hinweise auf Übernachtungsgäste. Die Räume sind nicht so vermüllt wie in manchen Ruinen anderer Großstädte. Vergleichsweise wenig Spray-Aktivitäten, dafür zum Teil hochklassig. Kaum Anfängerschmierereien.

 

Die Gebäude lassen wenig Hoffnung aufkommen, dass hier noch mal etwas Neues aus dem Alten wächst. Die Zerstörung ist weniger das Werk von Randale (auch wenn das hier und da leider zu sehen ist). Sie ist Ergebnis hoffnungslos einseitig ökonomisch ausgerichteter Geschäftspolitik eines Privatunternehmens, das völlig verantwortungslos ein schützenswertes Ensemble einer heillos überforderten Immobilienfirma überließ, deren Pläne von Anfang an schaudern ließen: Zug um Zug modernisieren und vermieten, um mit den Einkünften die nächste Partie zu sanieren. Das klang von Anfang an halbseiden. Gladbeck wird um ein Kleinod ärmer. Das leerstehende Hochhaus, von dem das Geiseldrama seinen Anfang nahm, wird wohl eher doch noch saniert. Ist ja erst vierzig Jahre alt. Wär aber nicht schade drum, wenn es abgerissen würde. Ich kann es hier nicht zeigen, weil ich keine Lust hatte, da auch noch vorbei zu fahren. Ist einfach zu doof.

Im Torweg, der die Eisenstraße überwölbt, standen auf einem Graffiti-Klecks (siehe unten) ein paar handschriftliche Zeilen, die sich mir zu einem Gedicht formen. Mein Gladbecker Blues:

 

 

Bottropper bitch war hier

Fabian du Arschloch

blas dir selbst ein

Fabian

I hate you

du WIXXER

I hate you

fuck you self

Fabian 

I love you

Donnerstag, 5. Januar 2017

Vorauseilende Neugierde

 

 

 

 

 

Nächste Woche bin ich ein paar Tage im Ruhrgebiet unterwegs. Nur mit meiner Kamera, und ich hoffe, dass es nicht nur regnet. Dann sollte sich das eine oder andere Foto machen lassen. Vor sechs Jahren waren wir auch dort, und es hat viel geregnet, trotzdem waren ein paar Bilder in meinem Archiv. Mal sehen, was ich dann demnächst hinzufügen kann.

ganz oben: Halde Haniel in Bottrop, Kunstinstallation auf dem Gipfel.

mittlere Zeile: zweimal Wuppertal, die geniale Schwebebahn. Und ein Blick auf der Fahrradtour, gefahren von der Bochumer Jahrhunderthalle nach Norden

untere Zeile: Installation mit Bergarbeiterschuhen in einer alten Zechenanlage. Spiegelung in der Henrichs-Hütte  in Hattingen. Skater vor der Jahrhunderthalle Bochum