2018 - Was bisher geschah

7.1.2018: Augsburger Puppenkiste / 9.1.2018: Augsburg

26.1.2018: Über die künstliche Herstellung von Kunsthonig (Deichtorhallen)

7.2.2018: The Rock (Helgoland)

20.2.2018: Spijöök (Varel / Friesland)

12.3.2018: Mühlenfahrräder (div., 2013-2018)

18.3.2018: Deichtor-Longo (Hamburg)

22.3.2018: Tag des unbekannten Graffiti-Künstlers (Hamburg Altona)

8.4.2018: Bildsuche (Ausstellungseröffnung Gerhard Fietz, Buchholz)

15.4.2018: Fratelli Strozzi und die Flussmühlen (Porto Viro / Archiv)

19.4.2018: Paranoid Polaroid (Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg)

22.4.2018: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (Kunsthalle Emden)

29.4.2018: In der Halle des Bildhauers

19.502018: Niki revisited (Herrenhäuser Gärten, Hannover)

17.6.2018: Neue Italien-Kapitel (1): Die Lagune von Ravenna und die Aale (Ravenna, Italien)

23.6.2018: Neue Italien-Kapitel (2): Die Lasten von Venedig

2.7.2018: Neue Italien-Kapitel (3): Rrrrravenna

3.7.2018: Neue Italien-Kapitel (4): Der alte Hafen von Ravenna

5.7.2018: Neue Italien-Kapitel (5): Burano ist bunt. Na und?

9.7.2018: Neue Italien-Kapitel (6): Villen im venezianischen Hinterland

16.7.2018: Neue Italien-Kapitel (7): free space   (Architektur-Biennale Venedig)

31.7.2018: Schloss und Fabrik (Meissen, Elbe)

1.8.2018: Yenidze, Volkswagen und Hygiene (Dresden-Mix)

30.8.2018: "Hundert Arbeiter" in der Völklinger Hütte (Völklingen Saarland)

2.9.2018: Traumfabrik in Abwicklung (Bendestorf, Landkreis Harburg)

28.9.2018: Erinnerungen an die Müllerstochter (Holmer Mühle, Buchholz)

13.10.2018: Das Gutshaus an der Warnow (Weitendorf bei Sternberg)

14.10.2018: Kiekeberg (Freilichtmuseum, Ehestorf, Kreis Harburg)

21.10.2018: Puppentanz (verschiedene Orte, 2012-2018)

27.10.2018: Russischer Horchposten (Altmark)

4.11.2018: Durchs Königreich Diahren zum Herrenhaus Salderatzen (Wendland)

7.11.2018: Jiggeler Mühle (Wendland)

11.11.2018: Stratmanns Dilemma (Kunstverein und Johanniskriche Buchholz)

5.12.2018: Bossards Vermächtnis (Lüllau, Landkreis Harburg)

11.12.2018: Auto-Advent (Wolfsburg)

 

 

 

 

Dienstag, 11. Dezember 2018

Auto-Advent

 

Adventliche Atmosphäre gehört ja nun irgendwie dazu, in diesen Tagen. Die Vase mit den Tannenzweigen und roten Beeren steht an der Balkontür, in der Innenstadt glüht der Weihnachtsmarkt-mann seinen Wein, und landauf, landab weihnachtet es sehr. Als der Grundstein für diesen Industriekomplex gelegt wurde, feierte man offiziell eher Jul und die Sonnewende als Weihnach-ten. Wolfsburg, Neugründung für das VW-Werk 1938, heute fünftgrößte Stadt Nieder-sachsens (was ja nicht ganz so viel heißen will), drapierte sich als "Stadt des Kdf nahe Fallersleben". Heute ist der Kern neben der Fabrik die "Autostadt", jahreszeitlich inszeniert, nicht mehr Jul und Sonnenwende, sondern Advent (und Energiewende? Aber wie? Mit den vielen Lämpchen?). Wirkt hübsch. Muss man nicht hin. Die Show auf dem Eis haben wir nicht mehr gesehen. Mussten unser Auto abholen. Ist ja so ein Ding, mit der privaten Energiewende...

Mittwoch, 5. Dezember 2018

Bossards Vermächtnis

 

Die Bossard-Kunststätte im benachbarten Lüllau-Wie-denhof hat mich schon früher beschäftigt (siehe Blog-Beiträge vom 7.11.2012 und 20.8.2015). Diese expres-sionistische Gebäude-An-sammlung, erbaut als äußerer Rahmen eines Gesamtkunstwerks in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahr-hunderts, verrätselt den Wald zwischen Jesteburg und Dierkshausen, am Rande des Naturschutzparks Lüneburger Heide. Der Bildhauer und Hamburger Professor Johann Bossard hat mit seiner Frau hier ein Lebenswerk erschaffen, das zwischen Größenideen und spirituellem Anspruch schillert. War es früher für mich nur eine Ahnung, dass hier was Merkwürdiges in der Luft liegt, so hat sich diese in der Zwischenzeit konkretisiert. Bossard war ein völkisch-nationaler Schwärmer mit Hang zu germanischen und nordischen Mythen, Originaltexte von ihm sind nur schwer auszuhalten. Da hallt es wieder von göttlicher Harmonie, den freien, hohen, starken Menschen, der deutschen Scholle und Deutschland als "Reich der Mitte", mir wird ganz schwindlig. Das ist der Stoff, aus dem auch die Nazis ihre Ideologie gemacht haben, und nicht zufällig war Alfred Rosenberg, Autor des "Mythus des 20. Jahrhunderts" und Nazi-Chefideologe, 1934 zu Besuch bei Bossards (aber zur Enttäuschung des Bildhauers gefiel es Rosenberg dort nicht). Bossard war kein NSDAP-Mitglied, aber zeigte eine Geisteshaltung, die so weit rechts ist, dass sie bis heute ungeneßbar bleibt und an neue rechte Verirrungen unserer heutigen Zeit erinnert.

 

Ein Beispiel für die Verwicklung, in die sich ein Bildhauer-Professor der staatlichen Kunstschule im Jahr 1933/34 begeben hat (musste? konnte?) ist der Wettbewerb für ein Ehrenmal, das auf der Moorweide für "die Gefallenen der Bewegung", will sagen: der nationalsozialistischen Bewegung, errichtet werden sollte. Bossard hat sich beteiligt, aber sein Entwurf war möglicherweise nicht bombastisch genug, nicht so gut als Kulisse für Massenaufmärsche geeignet, er wurde nicht prämiiert (Bild ganz oben und unten, erste Zeile). Aber er ist doch aus heutiger Sicht sehr kompatibel mit den Nazi-Städteplanungen und weist alle Embleme auf, die es braucht - Hakenkreuze und Adler und deutschen Gruß und so weiter. Musste man das machen? Oder war es der untaugliche Versuch, sich anzubiedern? Ich weiß es nicht, aber ich habe ein sehr mulmiges Gefühl dabei. Und ich weiß nicht wirklich, was mich an dem gesamten Ensemble in Lüllau doch auch anspricht - ich finde das faszinierend (die Faszination des Bösen?). Es gibt kein richtiges Leben im Falschen (Adorno). Gibt es Kunst auf der Basis einer völkisch-mythologisierenden Ideologie?

Sonntag, 11. November 2018

Stratmanns Dilemma

 

Ausstellung im Buchholzer Kunst-verein und der Johanniskirche: Roland Stratmann zeigt Objekte aus Tüchern und Postkarten, parolenartig beschrif-tet. Vor allem beeindruckt das Rhinozeros, das er Dürer abgeguckt und in ein neues Ambiente bzw. ein neues Gewand gesteckt hat, einmal im Kunstverein mit den Postkarten (Bild 1-6 unten), einmal in der Johannis-kirche (Bild 7-9) als Tücher-Teil. Leider war ich nicht bei der Vernissage, bei der das Rhino auf dem Tragegestell vom Kunstverein in die Kirche getragen wurd,e eine Prozession der ganz eigenen Art. Wäre ich gern dabeigewesen, aber ich musste ja in Bergmoor und Diahren rumwandern (siehe unten). Man kann eben nicht alles haben. So blieb aber jetzt Musse und Ruhe, die Postkarten auf den verschiedenen Werken im Kunstveein ausführlich zu entziffern. Zeitgeschichtliches aus der Zeit früherer Krisen und Katastrophen, Urlaubsgrüße aus Israel und Florida, und Ergebnisse einer Aktion mit Schülern, die auf Postkarten Beispiele schildern, wie sie "Krise" erleben: Einer beklagt den neuen Star-Wars-Kanon, der viel schlechter sei als der alte, ein anderer berichtet von der Französisch-Lern-Krise, die ihn neulich um 22 Uhr ereilt hat, oder einer zählt lakonisch auf: G -20 Gipfel,  Job verlieren, Handy-Verbot. Oder einer entschuldigt sich: "Ich weiß nicht genau, was ich schreiben soll, weil es mir eigentlich immer gut geht, zumindest rede ich mir das ein. Das einzige Problem / Krise die ich habe ist dass ich computersüchtig bin und dadurch habe ich mein Leben nicht 100% unter Kontrolle". Und schon versteht man den Titel der Ausstellung "Dilemma" viel besser.

P.S. Dieses Kunstlicht macht den Fotografen völlig wuschig. Ich knips Kunst nur noch draußen.

Mittwoch, 7. November 2018

Die Jiggeler Mühle

 

Ziemlich alt und ziemlich neu: Die Jiggeler Mühle bei Bergen, wo der Schnegaer Mühlbach in die Dumme fließt, es geht dann weiter in die Jeetzel und dann in die Elbe. Das 500 Jahre alte Mühlenanwesen liegt direkt an einer Furt, die noch heute sichtlich genutzt wird, es führen Treckerspuren durch den Mühlbach. Ein paar Kilometer entfernt liegt die Brüchauer Mühle, und noch ein Stück weiter haber ich ein paar Tage vorher die Harper Mühle angesehen, wo der BewohnerKünstler ein Umweltobjekt konstruiert hat, in dem 90.000 Pull-Off-Verschlüsse von Getränkedosen wie in einer Öko-Sanduhr runterrauschen, als Zeichen für die Vergänglichkeit und Vergewaltigung der Umwelt. "Zeitgeist" hat er es genannt (letzte Reihe Mitte).

Sonntag, 4.November 2018

Durchs Königreich Diahren zum Herrenhaus Salderatzen

 

Spaziergang ins Königreich Diahren und über die Wiesen zurück nach Salderatzen, Gemeinde Wadde-weitz. Allein diese Namen... Seitdem ich mich vor über vierzig Jahren an den Stationsnamen der Pariser Metro besoffen gelesen habe ("Barbès Rochechouart" zum Beispiel, "Bir Hakeim" oder "Reau-mur Sébastopol"), habe ich nicht mehr so traumhafte Namen gefun-den wie im Wendland. Mammoißel, Dickfeizen, Meuchefitz... und die Tolkien-Referenzen wie Tolstefanz und Teichlosen. Liegen beide wohl schon im Grenzland zum Auenland, wie der WendlandBlog zutreffend anmerkt. Ist ja alles Grenzland hier gewesen. Der Kniepenkrug in Diahren (s. Foto) hieß vielleicht früher "Zum tänzelnden Pony". Nun ist er dicht, und es bleiben nur die Trebeler Bauernstuben, wo ich gestern gegessen habe. Inkl. Lektüre der ausliegenden Anti-Fracking-Broschüren. Der Kampf geht weiter. Oder, um es mit der Pariser Metro zu sagen, "Oberkampf". Metro-Station im Quartier de la Folie Méricourt...Jörg Oberkampf ist mir noch aus meiner Studienzeit als Aktivist der Hamburger KPD bekannt, war später bis 2012 Prokurist bei einem Personaldienstleister im Hafen. Die KPD hat sich in den siebziger Jahren in Altona im "Zum alten Sängerheim' getroffen, im Hafenarbeitertreff 'Bi Hedi' (Vorsetzen), oder in Wilhelmsburg in "Zur goldenen Krone". Aber nie im Kniepenkrug. Das ist alles sehr verwirrend.

Sonnabend, 27. Oktober 2018

Russischer Horchposten

 

Für lost-places-Fotografen kein sehr exklusiver Ort: Die Abhöranlage der sowjetischen Armee auf dem Schwabenberg bei Bergmoor / Flecken Diesdorf). Nicht nur zahlreiche Knipser sind schon hier gewesen (wie man im Netz nachverfolgen kann), auch gestal-tungswütige Vandalen, und vor nicht allzu langer Zeit scheint alles mal durchgefegt worden zu sein (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ? Sozialstunden?). Was bleibt: Die russischen Soldaten hatten ein Faible für Pastellfarben. Und die Architektur der sechziger Jahre war alles andere als charmant. Wenn man dann liest, dass der größte Teil der fünfhundert dort stationierten Soldaten sommers wie winters in Zelten hauste, beneidet man sie nicht (aber sonst eigentlich sowieso auch nicht). 20 oder 30 Gebäude sind im Wald verstreut, bei den wenigsten ist die ursprüngliche Funktion noch feststellbar. Das Kohlekraftwerk kann man noch erkennen, irgendwas mit Starkstrom, ein Raum scheint für Röntgenaufnahmen gesichert zu sein, Garagen, eine herumliegende Altmark-Zeitung mit Schlagzeile über das Musikcafe "Alte Feuerwache" in Gardelegen von 1998 führt in die Irre, das war schon lange nach Abzug der Sowjets. In einem Gebäude scheinen alle Dübel-Löcher zugeschmiert worden zu sein, als wenn man das noch mal hätte nutzen wollen. Bloß: wofür? Ferienanlage für verdiente NVA-Kader? Sprayer-Akademie (die meisten Wandinschriften sind unter aller Sau)? Memento mori - einer hat neben einen Riss in der Wand  geschrieben: broken walls - history never dies. Wohl wahr.

Sonntag, 21. Oktober 2018

Puppentanz

 

Bei meinen ersten Gehversuchen auf Instagram (meion account dort umfasst noch nicht mehr als vier Fotos) Bin ich über das Foto einer Schaufensterpuppe in Hamburg St.Pauli gestolpert, das ich vor einem dreiviertel Jahr aufgenommen hatte. Dabei fielen mir dann noch die Puppen vom Wochenmarkt im apulischen Peschici ein (erste Reihe links), und die Puppen vom Markt auf dem Wilhelmsburger Stübenplatz (zweite Reihe links und Mitte). Dann gab es da noch die Puppen vom Basar in Istanbul (erste und zweite Reihe rechts), und schon war eine Multikulti-Truppe mehr oder weniger bekleideter Schaufensterpuppen beisammen, die einen schönen kleinen post auf meiner jimdo-Seite verdient hat. Das Psychogramm der Sehnsucht, die von diesen Puppen ausgeht, gepaart mit auswegloser Ohnmacht, ist bisher ungeschrieben. Vielleichtz kann ich mich dem auf meiner bevorstehenden Klausur zuwenden, wen ich ein paar Tage in Salderatzen verbringen werde, wo einem nun wirklich nichts ablenkt. Aber eigentlich steht dort der Abschluss meines Müllerinnen-Textes auf dem Programm. Ich nehme mir wie immer so viel vor, dass ein paar Tage in keinem Fall ausreichen. Aber passt schon.

Mehrere Puppenszenarien habe ich dann noch in meinem Archiv gefunden und füge sie nachträglich hinzu. Die Damen in rot/schwarz (unten links und Mitte) standen an der Hauptstraße von Licinella bei Paestum (Kampanien). Und die beiden Damen im Schaufenster  in Reggio Calabria, die eine einsame Puppe im Schaufenster in Krefeld.  Das Kaufhaus war schon weg, nur die Puppe übrig.

Noch eins gefunden:  eines von der Kulturellen Landpartie im Wendland 2014, und abschließend eins von Burano/Venedig 2018

Sonntag, 14. Oktober 2018

Kiekeberg

 

Im Freilichtmuseum sind wir immer wieder, alle paar Jahre, in einem Mu-seum ändert sich ja für normal nicht so viel. Allerdings tut sich hier mal wieder was, die "Königsberger Straße" wird aufgebaut: Ein Szenario aus den fünfziger und sechziger Jahren, mit Siedlungshäusern und einer Tank-stelle. Ist aber jetzt noch nichts von zu besichtigen. Dafür hat sich in den letzten Jahren im Ambiente der alten Bauernhäuser und Werkstätten viel verändert: Es ist viel lebendiger geworden. Eine stetig wachsende Schar Ehrenamtlicher in Tracht und in aktiver Betätigung veranschaulichen das, was das Leben auf dem Land vor hundert oder zweihundert Jahren gewesen sein mag. Ein Jugendlicher schnitzt einen Suppenlöffel und "de discher" fertigt eine Molle (Holz-schale). Im Rauchhaus qualmt es mächtig (Foto nebenstehend), und mitten in dem beizenden Rauch wird gewohnt - die Schinken werden gegessen, wenn sie durch sind, aber die Menschen... Die Bäckerin erzählt von den Frauen in der Land- und Hauswirtschaft, über die man nicht viel gesichert weiß, weil es keiner aufgeschrieben hat. Dabei war die Kleinviehwirtschaft oder die Kon-servierung der Lebensmittel vor Er-findung der Einweckgläser eine Wissenschaft für sich. Unsere Freundin ist heute eine Magd, kein leichter Job, den ganzen Tag in den klobigen Holzschuhen und bei karger Kost aus Steckrüben und dem (aller-dings außerordentlich gut schmeckenden) selbstgebackenen Brot. Der Kiekeberg ist ein lebendiges Museum, man begegnet schon mal einem frei rumlaufenden Schwein, die Gänseherde wird umgetrieben, die Hühner sind sowieso überall, und Kinder baden im Holzzuber. Ich fühle mich wie zuhause. Damals, Anfang der fünfziger, im kleinen Südheidedorf zwischen Celle und Gifhorn, in the middle of nowhere. Die verdreckte Hühnerleiter raufkletternd und dabei mühsam "Huhna, Huhna" rufend. Das "ü"  konnte ich noch nicht. Und denn wullt wi mol wedder no hus foarn, mid'n E-Bike. Times they are a'changing...

Sonnabend, 13.Oktober 2018

Das Gutshaus an der Warnow

 

Drei Tage Urlaub im Sternberger Land reduzieren sich fotografisch auf Guts-häuser und Bauernmärkte. Unsichtbar im FotoBlog bleiben: Buchenwälder und Warnowdurch-bruch, Blues mit Abbi Wallenstein in der Wassermühle von Parchim (heute: Irish Pub), End-möränenhügel sowie Sölle inmitten riesiger Felder.

 

Im alten Gutshaus (umgangs-sprachlich: "dem Schloss") von Weitendorf  kann man sich einmieten, wenn man auf der Warnow Paddeltouren plant (www.biber-kanu-warnow.de). Am Tag der Deutschen Einheit dürfen wir  auch so mal einen Blick ins Schloss werfen. Die seit wenigen Jahren durchgeführten Sanierungsarbeiten tragen erste Früchte, man darf eine ganze Reihe weiterer Erntephasen erwarten. Aber das Gut ist wieder Mittelpunkt des Dorfes, und so bekommt die Deutsche Einheit im kleinen bei Grillwurst, selbstgebackener Torte und Flaschenbierim Gutsgarten eine appetitliche Seite. Auch im nahegelegenen Flecken Rothen gibt es einen Feiertags-Bauernmarkt mit Kunst und Clowns. MeckPomm lebt. Wenn auch an anderen Ecken Gutshäuser, Kleinbusse  und ähnliches weiter schlafen. Im Bahnhof ist ein Café, die Apfelmostereien haben Hochbetrieb, und der Sternberger See kräuselt sich im Herbstwind.

Freitag, 28. September 2018

Erinnerungen an die Müllerstochter

 

Zwei Wochen lang war in der Holmer Mühle die Kunstausstellung "Les.Art der Müllerin" zu sehen. Sechs Künstler-Innen näherten sich der Müllerstochter Erna Oehlke auf unterschiedliche Weise an, mit Zeichnung oder Malerei, Objekten und Fotografien. Wie hat sie gelebt, was mag sie geträumt oder gewünscht haben, was hat sie beschäftigt (außer den großen Kornsäcken)? Und wie beeinflusst mein eigener Blick die Ahnungen über eine Frau, die vor hundert Jahren gelebt hat? Die Holmer Mühle war zwei Wochen lang lebendig in der Erinnerung an das Gestern. Lebendig waren auch Gespräche unter Besuchern oder mit den Künstlern.

In der kleinen Kornkammer lagen fast vierzig Bilder auf dem Tisch, die ich in den letzten zehn Jahren fotografiert habe. Sie stammen aus unterschiedlichen Gegenden, aber haben eines gemeinsam: aus ihnen spricht eine Weite, in die die ganze Welt passt, oder ein kleines Dorf mit einer Wassermühle an der Seeve. Psychologen nennen das Möglichkeitsräume. Und was träumen Sie? Diese Frage stand auf einem Poster an der Wand. Und: "Catch your dreams before they slip away!"  Hier die Galerie der ausgestellten Fotos. Die ersten vier hingen an der Wand.

Das Nicht-Wissen ist doch mindestens ebenso spannend wie das Wissen. Und in einem Zitat an der Wand wird darauf hingewiesen, dass die Träume in der Nacht deutlicher sind - wie die Sterne, die aber tagsüber genauso wenig verschwunden sind wie die Träume, nur nicht so einfach wahrzunehmen.

Hier unten sind die Bilder der Ausstellung in einer Abfolge vom Entfernteren zum Näheren zu sehen - eine Reihenfolge, die auf dem Foto-Tisch in der Kornkammer nicht zu sehen war, hier ergibt sie sich aus den Layout-Begrenzungen des Internet.

Sonntag, 2. September 2018

Traumfabrik in Abwicklung

 

In Bendestorf wurden seit den späten vierziger Jahren Filme gedreht. Namhafte Schauspieler wie Zarah Leander oder Marika Rökk haben hier gespielt, Hildegard Knef war hier "Die Sünderin". Genau, in dem Film mit der Nacktszene...

Dann gab es nach wirtschaftlichem Niedergang eine jahrelange Kommunal-posse um die weitere Nutzung der Gebäude, und das Geld gewann. Ein Requisiten-Gebäude mit dem Film-museum bleibt stehen, der Rest wird abgerissen und es werden Wohnungen gebaut. Wie das ganze Gezerre um den Erhalt des Kulturdenkmals gestaltet sich auch der Abriss skurril. Wegen eines Fledermausgutachtens hätte schnell abgerissen werden müssen, die Verzögerungen führten dazu, dass ein neues Gutachten erstellt werden muss und der Abriss derzeit ruht. Ein Bauzaun versperrt den Weg in das nunmehr halb abgerissene Studio nur lückenhaft, oder um es präzise zu benennen: Das Gelände ist im Grunde nicht gesichert. Und dann stehen alle Türen offen, in die Halle 3, in die Requisite, das Filmlager und und und. Hunderte von Filmrollen rosten vor sich hin, Filme schlängeln sich über den Boden, Abrechnungen und Mahnungen flattern überall rum, Ansichtskarten von Kollegen aus dem Florida-Urlaub, und Plüschtiere schlum-mern bis zum nächsten Abriss-Schub. Albtraumfabrik. Man möchte aufwa-chen, kann aber die Füsse nicht bewegen, es ist zäh wie Sirup, man kommt nicht voran, und man ist auch kaum bekleidet, alle diese Albtraumszenarien... Scham und Ohnmacht... nur die Unternehmer, die hier bauen wollen, die kennen diese Zustände weniger, Scham und Ohnmacht hebeln sie cool aus, über fünfzig Jahre  lokaler Kulturgeschichte  mit überregionaler Ausstrahlung kümmern sie wenig. Bei vielen anderen lost places habe ich Ehrfurcht oder so etwas wie Demut verspürt, manchmal auch eine Beklemmung, aber hier blutet das Herz. Selten war ich so froh, dass es wenigstens noch ein paar Bilder gibt.

Donnerstag, 30.August 2018

"Hundert Arbeiter"

in der Völklinger Hütte

 

Die Völklinger Hütte zeigt in ihren Weltkulturerbe-Hallen urban art und Grafik. Zur Zeit ist das neben Fotos von Banksys "Dismaland" (nicht wirklich überzeugend - daher hier kein Bericht) ein Projekt des Nürnberger Künstlers Ottmar Hörl. Er stellt seine standardisierten Plaste-Arbeiter in den Kontext ihrer früheren Arbeitswelt und erweitert den Blick von der aufregenden Architektur des Hochofen-Komplexes zu den Malochern, die dort über Jahrzehnte in Staub und Hitze Stahl gekocht haben. Hier und da treten die Arbeiter auch in Verbindung zu den neuen oder abblätternden urban art-Kunstwerken beispielsweise im "Paradies". Diesen Teil des Geländes, wo früher Kohle zu Koks wurde, erobert sich die Natur langsam zurück, ohne dabei gehindert zu werden. 100 Arbeiter verfolgen es mit Befremden, aber auch Freude (so sehe ich es - sie verziehen allesamt keine Miene).

 

Mittwoch, 1. August 2018

Yenidze, Volkswagen und Hygiene

 

Die alte Tabakfabrik prägt die Dresdner Skyline ebenso wie die Frauenkirche. Mit ihrer orienta-lisierenden Kuppel  ruft sie die Ahnung von Latakia wach und stellt damit den Zeitbezug her. Latakia kam aus Syrien. Latakia liegt ungefähr gleich weit entfernt von Homs und Aleppo am Mittelmeer. Aber im Yenidze wird ja schon lange keine Zigarette mehr produziert, und eigentlich liegt Genidsea (türkisch: Yenidze) im nörd-lichen Griechenland. Und seit der Wende werden die sächsischen Zigaretten sowieso woanders gerollt. Das Minarett ist übrigens ein Schornstein. Und drinnen gibt es Bauchtanz und orientalische Märchen - wenig originell.

Außerdem gehört zu den neueren Sehenswürdigkeiten in Deutsch-Südost ein gläsernes Design-Schmankerl von Volkswagen - dort wird der e-Golf montiert, und man kann dabei zusehen. Aber wozu? In der Dresdner Neustadt (die eigentlich Altstadt ist) haben wir die Kunst-Höfe gefunden, Kunst am Bau, urbanes Wohnen und Schickimicki in angenehmer Kombi. Im Hygiene-Museum gab es neben der Dauerausstellung (mit Foto)  eine Rassismus-Ausstellung, mit beeindruckender Möblierung des afrodeutschen Architekten Kéré in einem fast schon bauhausmäßig anmutenden Gebäude von 1911 (ohne Foto). Und vor dem japanischen Palais wurde an der Elbe Milonga getanzt, ein Tanzcafé-Date mit Tango Argentino.

Dienstag, 31.Juli 2018

Schloss und Fabrik

 

Der Dom auf dem Burgberg ist 1000 Jahre alt. Die Elbe unten noch älter. Wenn man runterguckt, begeistert das Dächergewimmel unmittelbar. Ein bisschen fällt auf, dass das alles recht neu aussieht, klar, die Sanierungsmaßnahmen waren überfällig und in den letzten 20 Jahren ist hier viel passiert. Die Prozellanstadt Meissen ist nicht zerschlagen. Im Hinterhof der Weinstube liegt die Katze auf einem der vier Tische: Sie könne sich einfach nicht daran gewöhnen, dass sie nicht auf dem Tisch liegen soll, wenn Gäste da sind. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wenn sie auf dem Tisch liegt, hat eigentlich keiner was im Hinterhof zu suchen. Katzenrechtlerin in Meissen. Darüber oben am Giebel ein großes Wandbild von Luise Otto-Peters, laut Inschrift am Geburtshaus "Begründerin und Führerin der deutschen Frauenbewegung", geboren 1819 in Meissen. Die von ihr herausgegebene "Frauen-Zeitung" stellte sie unter das Motto "Dem Reich der Freiheit werb ich Bürgerinnen". Ihren Roman "Schloss und Fabrik" kann man noch heute im Netz nachlesen (http://www.zeno.org/Literatur/M/Otto,+Louise/Romane/Schlo%C3%9F+und+Fabrik). Wenn man vom Burgberg (Schlossberg) auf die Stadt blickt, erblickt man ihr Wandbild auch von dort wieder inmitten der Dächervielfalt (erste Reihe, Mitte). .

Auf den Elbwiesen wartet das Hüpfburg-Spektakel auf die Eröffnung. Oben, auf der richtigen Burg, wartet ein Seidentuch auf seine Besitzerin. Burg und Hüpfburg. Schloss und Fabrik. Die Einheimischen, denen man begegnet, sind vorwiegend in der Gastronomie beschäftigt. So ist das eben in Tourismuszentren. Die einen arbeiten, die anderen zahlen. Aber Meissen ist hübsch. Das Prozellan-Museum haben wir ausgelassen und sind mit dem E-Bike nach Dresden zurückgefahren.

Montag, 16. Juli 2018

Neue Italien-Kapitel (7)

Free space

 

Im jährlichen Wechsel mit der Kunst-Biennale gibt es in Venedig ale zwei Jahre die Architektur-Biennale. Sie findet an denselben Hauptorten statt: in den Giardini, einem Park am östlichen  Zipfel  der Altstadtinsel, und im Arsenale, der alten Werft. Wir haben wieder nur die Hälfte geschafft - in diesem Jahr die Giardini. Zwei Dutzend Länderpavillons und ein Haupthaus mit Einzelausstellungen beschäftigen einen solange, bis man keinen Blick mehr für gar nichts hat und besser noch etwas chillt. "free space" ist das Motto der diesjährigen Ausstellung, und dem Zeit-Redakteur hat sie nicht gefallen. So ist das halt mit der Freiheit, manchmal möchte man doch etwas vorschreiben. Dabei gibt es spannende Anregungen und Hingucker, neben all  dem konzeptionellen Papier an der Wand und beliebigen Ideen. Der belgische Pavillon (oben) beschränkt sich auf eine blaue Arena, die beschallt wird mit einer Version von "Freude schöner Götterfunken", der Europa-Hymne. Okay, etwas dicke, aber der Raum beeindruckt (vor allem, wenn man wie ich allein dort ist). Man möchte etwas aufführen, aber was, keiner gibt einem Orientierung, free space eben. Die Engländer haben ihren Pavillon ganz leer stehen lassen (auch mal schön, so klassizistisch geschnittene Altbauwohnung leer) und aus  Baugerüstmontageteilen eine Bühne darüber gebaut, von der man einen klaase Blick über die Lagune hat, space soviel man will, und um vier Uhr wird Tee serviert. Wir waren zu früh. Von dort blickt man auch auf die Liegestühle vor dem französischen Pavillon. Der deutsche Pavillon (über dem Portal noch lesbar die verblichenen Schemen der abgebauten Buchstaben "GERMANIA") befasst sich mit dem getrennten Raum, den Mauern 28 Jahre nach dem Fall der Mauer, die wiederum 28 Jahre lang gestanden hatte. Videos mit Interviews von Menschen, in dern Heimat ebenfalls Mauern trennen (Israel/Palästina, Mexiko/USA usw.), und auf der Rückseite der beeindruckenden Mauerteile in schwarz ein Berg an Informationen - sehr gut gelungen.

Bei den Spaniern fand ich Licht und Schatten: eine geniale Neon-Skulptur am Eingang in verschiedenen Farben - und drinnen ein Wust an Informationen, die mich nicht erreicht haben, ich  weiß gar nicht, worum es eigentlich ging, aber für intensivere Nachforschungen war es einfach zu heiß. Und dann wieder ein Raum, der leicht war und weiß und kühl und überhaupt keine intellektuelle Leistung forderte und ich fühlte mich wieder wohl. Free feelings for a free citizen.

Montag, 9.Juli 2018

Neue Italien-Kapitel (6)

Villen im venezianischen Hinterland

 

Die Altstadtinsel von Venedig  bot irgendwann nicht mehr so viel Platz für Repräsentation, für Rückzug oder Privatheit. Deshalb wichen die Reichen und die Schönen der letzten zwei-, dreihundert Jahre aus in das Hinterland an der Brenta und umzu. Einige der kleineren oder größeren Villen stehen heute leer, einige sind Hotels oder Museen. Nur in wenigen wohnen noch die Nachkommen der Patrizier und Diplomaten, die hier gebaut haben, zum Beispiel im Weltkulturerbe der Villa Barbaro in Maser (etwas weiter nördlich, letzte Zeile unten). Diese namenlose Villa (oben) ist in Würde ergraut , und was nun? Touristen fahren mit dem Schiff auf dem Fluss von Venedig bis Padova, das sichert den Bestand ein wenig, aber den Verfall kann es nicht aufhalten. Der hässlichster Bau ist der am besten gepflegte, es ist der "Nazionale" genannte Palast des Dogen von Venedig (2. Reihe rechts),  der es angemessen fand, sich das Vorbild des Schlosses von Versailles zu wählen. Aus heutiger Sicht etwas überkandidelt, über 120 Zimmer, aber Venedig musste halt was darstellen. Auf der Suche nach dem Billardzimmer, dem Jagdzimmer oder anderen Zerstreungsräumen dürfte man sich schnell verlaufen.

Donnerstag, 5. Juli 2018

Neue Italien-Kapitel (5)

Burano ist bunt. Na und?

 

In der Lagune von Venedig gibt es eine Reihe von Inseln, von denen zwei besonders bekannt sind und entsprechend von Scharen von Touristen besucht werden. Murano ist die Glasbläserinsel, Burano ist etwas weiter weg. Es versucht sein Profil zwiefach zu schärfen: mit Spitzenstickerei und bunten Häusern. Spitzenstickerei ist nicht jedermanns Sache, und seit wir auf Fuerteventura in einem kleinen Dorf eine noch wirklich echt dort gefertigte Tischdecke mit Spitzen gekauft haben, ist unser Bedarf gedeckt, und das ist dreißig Jahre her. Und bunte Häuser? Gibt es ja einerseits in Tirana auch, und auf Helgoland, und in Groningen, und die Hausboote in Granville Island, Vancouver, Kanada, sind auch bunt. Aber in Burano geben sie sich wirklich viel Mühe, ein Sammelsurium von gewagten Farben an die Fassade zu bringen, das von altrosa über petrol zu pink und himmelblau  reicht und einem stellenweise etwas den Atem stocken lässt. Die Legenden, wie es zu der Buntheit kam, sind platt und wirken so, als wäre ein Ideenwettbewerb unter den Praktikanten des Tourismusbüros ausgelobt worden, zu dem diese eigentlich gar keine Lust hatten. Aber bunt bleibt Pflicht, auch wo die Häuser selbst (z.T. auch neueren Datums) eher gleichförmig sind.

Wenn ein Ort künstlich bunt gehalten wird, hindert den Fotografen nichts, die Bilder von dieserr Buntheit auch künstlich zu gestalten. Vielleicht gefällt dem Publikum Burano unter Zuhilfenahme von Color Efex 4 noch besser und es fahren noch mehr hin.  Wenn Sie das vorhaben, achten Sie darauf, auf dem Vaporetto sich gleich nach Betreten rechts in die Ecke zu stellen, damit Sie sich nach der Abfahrt gleich an die Reling drängeln können, sonst stehen Sie eine Stunde eingekeilt in fünfzig bis siebzig japanische Jugendliche, eine Gruppe niederländischer Rentner und vereinzelte Buranesen und sehen nichts von der Lagune. Dabei ist die das eigentlich  Schöne an der Tour (finde ich).

Dienstag, 3. Juli 2018

Neue Italien-Kapitel (4)

Der alte Hafen von Ravenna

 

Der ganz alte Hafen von Ravenna  liegt südlich, in der Ortschaft Classe, stammt aus dem fünften Jahrhundert und ist schon im Mittelalter versandet. Der neue Hafen liegt nördlich, bei den Raffinerien, mit dem Yachthafen und dem Kreuzfahrtterminal. Und dann gibt es noch nahe dem Stadtzentrum, gleich hinter dem Bahnhof, ein älteres Hafenbecken, das kaum noch benutzt wird. Nach und nach werden immer mehr Lagerhäuser, Gewerbehallen, Werftbetriebe verlassen, abgerissen und weichen Wohn- und Bürohäusern. Leider hört Kulturgeschichte bei weniger als zweihundert Jahren Alter auf: Je älter, desto mehr Fördermittel, das Leben und Arbeiten vor hundert Jahren kann überbetoniert werden.  Wo Verfall stattfindet, ist street art  nicht weit.

Ich habe das durch Zufall entdeckt, weil famila Ravenna um die Ecke liegt und wir einkaufen mussten. Im Vorbeifahren sah ich die Ruine des Consorzio agrario, einer Art Bezugs- und Absatzgenossenschaft, die ihre Niederlassung an der Via delle Industrie (wer hat wann eine Straße so fortschrittsgläubig benannt?) aufgegeben hat (unten, erste Reihe). Die Ruine staht am Hafenkanal und reiht sich ein in die Ruinen beidseits des Wassers, die wohl in wenigen Jahren verschwunden sein werden. Manchmal hat eine Stadt solche Quartiere geistesgegenwärtig in Ateliers, Galerien und Ausstellungshallen, event-centres und andere Gentrifizierungsobjekte umgewandelt - und so wenigstens rudimentär erhalten. Ravenna setzt monomanisch auf die Mosaiken aus der Zeit Theoderichs (s. Kapitel 3). Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Hier am innerstädtischen Hafen handelt es sich um wertvolle Industriedenkmäler (z.b. die Halle letzte Zeile Mitte - oder das freischwebende Halendach, Mittelzeile). Bitte retten!

Neue Italien-Kapitel (3)

Montag, 2. Juli 2018

Rrrrravenna

 

So hat Hanns Dieter Hüsch in einem seiner Texte es mit höchstem Ausdruck gerollt: Rrrrrravenna. Es ist einer der Ortsnamen, die in seiner Erinnerung einen ganzen Kosmos mitbringen, eine Welt aus Phantasien und Geschichten, schon allein und eigentlich nur des Klangs wegen. Rrrravenna. Wie Samarkand oder (wie ich hinzufügen möchte) Maracaibo. Rrrrravenna: Wir kannten es bisher nur vom Vorbeifahren,  schlecht gepflegte Nationalstraße, Raffinerien, Hafenanlagen, nichts wie weg. Jetzt liefen wir durch diese kleine Stadt mit 160.000 Einwohnern (also soviele wie Hamburg um 1850) und acht Bauwerken, die in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen sind (in Hamburg:  Kontorhausviertel und Speicherstadt). Ravenna punktet vor allem mit den Mosaiken. Als die Stadt im fünften Jahrhundert Metropole des weströmischen Reiches war und kurz darauf die Ostgoten unter Theoderich von dort aus herrschten, stand sie vor Rom und Mailand ganz oben. Auch später fanden dort noch wichtige Konferenzen statt (mit Otto I und Friedrich II), aber es ging mit Ravenna wie mit dem verlandenden Hafen bergab. Vorher, zur großen Zeit von Ravenna, war Kirchenschmuck üblicherweise Mosaik gewesen, das hielt prima und man konnte das mit den Farben gut hinkriegen.  Ein Kleinod ist die Kapelle, die Galla Placidia im Jahr 425 errichten ließ, und deren Fensterscheiben  aus fein geschnittenen Alabaster gefertigt waren:

Direkt neben dem Mausoleum liegt die Kirche S. Vitale aus dem sechsten Jahrhundert. Meinen flash beim Betreten dieser Kirche  kann ich nur in Worte zu fassen versuchen , die Bilder geben das nur unzureichend wieder: Ich hatte das Gefühl, die kleine Schwester der Hagia Sophia in Istanbul zu betreten. Das war schwer zu beschreiben, es war eine archaische Schönheit, eine erhabene Würde, die der Raum ausstrahlte. Die Assoziation der Hagia Sophia war nicht schwer erklärlich, sind doch beide Kirchen zur gleichen Zeit entstanden und Ravenna ein Teil des oströmischen Kulturraumes, byzantinisch beeinflusst. Und wenn man aus Türen oder Fenstern nach draußen sehen konnte, erblickte man in Ravenna keine Minarette wie in Istanbul.

Die beiden Bilder unten rechts sind Spiegelungen. Für die Taufe brauchte man ein großes Becken, in dem man ganz untertauchen konnte (rechts). Das Wasser stand in Verbindung mit einem Becken hinter der Kirche, das zur Zeit fast ausgetrocknet war. Nur ein Pfützenrest spiegelt noch (Mitte) . Im Taufbecken konnte man Münzenm blinken sehen - Touristen schmeißen überall, wo Wasser ist, Münzen rein. Aberglaube ist noch ziemlich im Schwange, vor allem, wenn er nur kleine Münze kostet.

 

 

 

 

Sonnabend, 23. Juni 2018

Neue Italien-Kapitel (2)

Die Lasten von Venedig

 

Venedig war jahrhundertelang eine Insel ohne Brücken-verbindung mit dem Festland. Jahrhundertelang musste jede Kartoffel, jede Paprika, jede Tomate mit dem Schiff in die Stadt gebracht werden (eine Nudelfabrik gab es im venezianischen Quartier Giudecca). Jedes Glas Wasser kam vom Festland, mit dem Boot. Wasserverkäufer gingen von Haustür zu Haustür. Die erste Brückenverbindung kam 1797 aus militärischen, nicht aus logistischen Gründen. Den heutigen Straßendamm gibt es seit 1933.

 Innerhalb der Stadt muss weiterhin alles per Boot geschehen. In manchen Quartieren kann man mit Handkarren kleinere Mengen verteilen, aber im Großen und Ganzen geht nach wie vor alles über das Wasser. Das gilt für die Menschen, die mit den Vaporetti (sowas wie unsere Alsterdampfer) zur Arbeit oder zur Party fahren, oder mit einem der immer zahlreicher werdenden Wassertaxis. Und es gilt für die Waren, die Lebensmittel, Post, Wäsche, Baumaterialien, alles.

 

Den Lastkähnen ist dieses Kapitel gewidmet. Dass Venedig lebt, ist ihnen zu verdanken. Sein Siechtum aber auch: die Wasserbewegungen durch die Schiffe wühlen den Grund der Canali auf, nagen an den Fundamenten, die Kreuzfahrtschiffe tun das Ihrige, und so steht Venedig längst nicht so fest, wie es sollte.

Sonntag, 17. Juni 2918: Neue Italien-Kapitel (1): Die Lagune von Ravenna und die Aale

 

Während im Internet-Radio  die Live-Berichterstattung vom Spiel Deutschland - Mexiko läuft, blicke ich auf die Bilder des heutigen Tages: Mit dem Rad sind wir um die Pialassa Baione gefahren, eine Flachwasserlagune vor den Toren und den Hafenanlagen von Ravenna. Mexiko führt 1:0. Rund um die Lagune stehen an den Ufern und auf den Dämmen kleine Hütten mit großen Netzen, die davor über dem Wasser hängen, acht mal acht Meter oder so, in der Mitte nach unten durchhängend. Mit ihnen werden im Winter die Aale gefangen, die als Glasaale aus der Sargassosee kommen und in die Lagunen gelockt werden, wo sie wachsen und dann bei stürmischer See (das lieben sie für ihre Nahrungssuche) gefangen werden. Kein Fischer kann davon leben, es ist ein Hobby, das viel Arbeit kostet, und die Hütten sind vielfach schon sehr abgenutzt, abgeblättert, keiner wird  reich vom Aalfang. Aber von Chioggia im Norden bis hinter Ravenna gibt es hunderte, wenn nicht tausende dieser Hütten mit ihren dekorativ ins Auge fallenden Netzen.

Ansonsten gibt es Vögel, Schwäne, Enten, und keine Menschenseele weit und breit. Nur am Horizont ist immer wieder mal die Skyline der Hafenanlagen von Ravenna zu sehen. Hier herrschen Ruhe, Grün und Duft von Kräutern und Wasser. Nur Flamingos wie an der nahegelegenen Lagune von Commacchio gibt es hier nicht. Vielleicht können wir morgen eine Bootstour dort buchen, um diese besonderen Vögel noch einmal zu besuchen, die wir dort schon vor fünf Jahren auf eigene Faust durch Zufall entdeckt haben. Das Spiel ist zuende. Deutschland hat verloren. Italien ist gar nicht dabei.

Sonnabend, 19. Mai 2018

Niki revisited

 

Vor einem Jahr hat uns der Tarotgarten von Niki de Saint Phalle in der südlichen Toskana begeistert (s. BilderBlog vom 1.10.2017). Jetzt haben wir uns in heimatlichen Gefilden umgesehen, wo auch Niki drin ist: in den Herrenhäuser Gärten in Hannover. Da gibt es eine "romantische" Grotte,  zur Zer-streuung und Ab-kühlung des Adels, deren Ausgestaltung  Niki als letztes Werk konzipiert hat und das kurz nach ihrem Tod 2002/03 von ihren Mitarbeitern fertig gestellt werden konnte. Sie hat Motive von Matisse ("Tanz" 1909) aufgegriffen, und den Komiker Mister Bean eingebaut und ihre Mutter - wie üblich ein breites Spektrum. Außerdem tritt der indische elephantenköpfige Gott Ganesha auf (allerdings ohne sein traditionelles Reittier, die Ratte). Und es gibt Spiegelmosaiken in silber, gold und allen mög-lichen anderen Farben, Fenstergitter und frag-mentierte Frauen. Es ist also eine zersplitterte Welt, in der aber auch immer wieder diese höchst lebensprallen Frauen auftreten, herumfliegen, auf dem Kopf stehen. Ob diese denkmalsschutz-gerecht konzipierte Gestaltung der dreihundert-füfnzig Jahre alten "Grotte" den Welfen damals gefallen hätte, darf bezweifelt werden. Noch in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts provozierte der Ankauf dreier Nanas durch die Stadt Hannover einen Aufstand in der braven Bevölkerung.  Heute lässt zwischen dem welt-größten Schützenfest und dem fracking-freundlichsten Bergamt der Republik keiner mehr was auf Niki kommen in dieser unserer Landes-hauptstadt.

 

Die Niki-Grotte ist ordentlicher als der Tarot-Garten in der Toskana. Vielleicht war der finanzielle Spielraum bei diesem öffentlichen Auftrag größer als bei ihrem größenwahnsinnigen Privat-Projekt im Süden und es konnte dadurch etwas feiner werden. Vielleicht waren denkmalsschützerische Zwänge doch auch einengend. Es musste ja die Silhouette der Grotte auch innen erhalten bleiben. Vielleicht musste auch die schon schwer erkrankte de Saint Phalle größere Anteile an der handwerklichen  Ausgestaltung dem Team überlassen. Trotzdem geht von diesem funkelnden Kleinod in Kalksandstein-Hülle ein provokativer Charme aus, der frecher ist als man von den biederen Niedersachsen erwarten  würde - von Niki de Saint Phalle allerdings schon.

Die blauen Motive stammen aus dem Nacht-Raum, gold-gelb-rot ist der Lebensbaum im Mittelraum. Die Fenstergitter hat de Saint Phalle innerhalb einer knappen Stunde am Café-Tisch skizziert, weil die noch dringend gebraucht wurden, und ihre bizarren Formen strahlen als einziges Formelement nach außen, mit Blick u.a. auf die Schlossküche. Gestern war da eine geschlossene Gesellschaft. Niki de Saint Phalle hätte möglicherweise geschossen.

Jetzt müssen wir noch die anderen norddeutschen Nanas besuchen. Zum Beispiel gegenüber der Hamburger Elphi, bei den Musicalhäusern am Elbufer. Und vor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Harburg. Der Standort hätte ihr gefallen. Kunst- und Musiktherapie, daran lag ihr sehr.

Sonntag, 29. April 2018

In der Halle des Bildhauers

 

Wenn man mit dem Fahrrad durch Wälder und Felder fährt, begegnet einem in diesen Tagen  hier und da die Heide-Kultur. Ein absolutes Highlight: Die Werkstatt von Jan Amelung, im Landkreis und in der großen Stadt bekannter Bildhauer. Ein altes Natursteinwerk, früher mal mit Steinbruch und immer noch mit Grabsteinen, die aufgereiht stehen wie ein Friedhofsbataillon. Große Halle, früher stand hier ein LKW Henschel HS 120, Baujahr 1957, aber bei der Geschäftsaufgabe der Traditions-firma Anacker im Jahr 2001 wurde der versteigert. Aus der Zeit stammt wohl auch noch das alte Kepa- Schild - wer kennt noch die "Groschen-Kaufhäuser", die später meist zu Karstadt-Filialen wurden? Jetzt ist das alte Stein-Werk der Spielraum für den Bildhauer Jan Amelung, bekannt durch Skulpturen im ganzen Landkreis und Kunst im öffentlichen Raum der Metropole Hamburg (Amphitheater der Schule Schierenberg in Meiendorf, Spielplatz im Hans- Christian- Andersen- Park in Osdorf u.a.m.). Amelung hat auch den Gedenkstein  für die Opfer des Faschismus in Buchholz geschaffen, der 2016 eingeweiht wurde. Hier in Appel präsentiert er heute seine offene Werkstatt mit älteren Arbeiten (da hat er sogar Steine noch poliert, das macht er heute gar nicht mehr), Finger-Übungen (unten links), einem Häusermeer und anderen Experi-menten, neuerdings sind die  Bestandteile seiner vertikalen Skulpturen drehbar, sie ver-ändern sich ohne sich zu verraten. Überhaupt ist das Werk Amelungs wie der Künstler selbst - kräftig, massiv, ruhig, stehen im Sturm ohne sich biegen zu lassen.

 

Amelung verarbeitet auch alte Grabsteine (upps - oder: warum auch nicht?), wie man oben-Mitte- links sehen kann. Das mit den Grabsteinen fällt mir jedesmal auf, seit wir 2013 den Steinbruch in Krakau gesehn haben, wo Steven Spielberg 1993  ein KZ für seinen Film "Schindlers Liste" nachgebaut hatte. Die Grabsteine des jüdischen Friedhofs, mit denen die Film-KZ-Hauptstraße gepflastert war, lagen zwanzig Jahre später  immer noch dort im sumpfigen Gelände. Okay - Schnitt, anderer Film. Auf dem Kreuz links in der dritten Zeile steht ein Wort aus dem Psalm 84. Aus dem Psalm habe ich schon mal was fotografiert, das war ein alter zersplitterter Bilderrahmen auf dem Dachboden eines verfallenen Bauernhauses: da stand "Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!". Irgendwie bin ich angesichts des Werkes von Jan Amelung offensichtlich sehr offen für spirituelle Assoziationen.

 

Amelung hat dem Ort seinen Stempel aufgdrückt. Seine Bauhütte neben der Riesenhalle ist gleichzeitig Showroom, Museum und Arbeitsplatz für kleinere Tätigkeiten. Eine Skulptur, die zwanzig oder hundert Kilo wiegt, steht fest auf ihrem Platz. So wirken auch die Worte, die sich Amelung abringt: Jedes steht fest auf seinem Platz. Wird nicht so einfach hingeworfen, weht auch nicht einfach weg, da kann man drauf bauen. Und es benutzen - Amelung freut es besonders, wenn seine öffentlichen Werke Gebrauchsspuren aufweisen, zum Beispiel von kletternden Kindern oder kompetenten Sprayern. Dann sind sie für die Menschen da.

Sonntag, 22.April 2018

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

 

Als die ersten Amerikaner in den sechziger Jahren ihre Farbe auf die Bilder spritzten, kleckerten, schmierten, damit auch wirklich auf sicher keine erkennbare Form entstand, sondern die abstrakte Gestalt aus Farbe und Struktur, gab es natürlich auch eine extreme Gegenbewegung, die mit der Realität einen anderen Pakt schloss. Wenn die großen Maler der Renaissance oder des Barock ihre Stillleben arrangierten und ihre Zeit darin wie-derfanden, wie musste dann das Stillleben der sieb-ziger Jahre aussehen? Ralph Goings beispielsweise (Bild oben) fand Heinz' Tomatenketchup und die A1-Steaksauce typisch, um angerichtet zu werden wie Kapaun und Feder vor dreihundert Jahren. Das Licht war wichtig, die handwerkliche Perfektion gehörte wie selbstverständlich dazu, und gleichzeitig entstand durch die malerische Wiedergabe der Realität eine neue Ebene einer verfremdeten Realität, der man sich gegenübersah und nicht in ihr drin. Schon lange vor ihrer Präsidentschaftskandidatur wurde Hillary Clinton gemalt - mit Bleistift, in einer drei mal sechs Meter großen schwarzweiß-Wiedergabe (Ausschnitt und Vergleich s. unten). Diane Arbus fotografierte gleich in schwarzweiß. Was ist der Realität näher, das Foto oder die Zeichnung nach dem Foto? Was ist angemessener? Egal? Der New Yorker Busbahnhof Grand Central ist gemalt wie auf einem Wimmelbild aus dem Kindergarten - oder ist der der Vergleich blasphemisch (Totale und Detailausschnitte zweite Zeile und dritte links)? Die Wirklichkeit setzt sich aus kleinen Teilen zusammen, die manchmal erst aus der Ferne eine Kontur ergeben (dritte Zeile - das mittlere Bild ist ein Ausschnitt aus dem rechten).

Wachsfiguren-Cowboys, die "in Wirklichkeit" aus Bronze sind (Duane Hanson) Hautstudien (Larry Rivers), eine Toilettenpapierrolle aus Carrara-Marmor, das wünscht man sich in der "wirklichen" Realität im Notfall eher nicht, und wie sich die Bilder gleichen: die HipHop-Prophetin Deborah und ein Guide mit Kopfhörern, und die Handhaltung irgendwie ikonisch...

 

Und das ganze Drumherum um diese Wirklichkeit: die Fahrt mit dem Bus nach Emden (links), die Werkstatt in der Kunsthalle, wo Besucher sich ausprobieren können (unten rechts), und das Gebäude selbst, mit Garderobe und Eingang, und die Besucher, die überall im Weg stehen und den Fotografen zur Verzweiflung bringen, oder zum Bestandteil der Ausstellung werden.

Donnerstag, 19. April 2018:

Paranoid Polaroid

Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe kann man Polaroid-Fotos aus den letzten fünfzig Jahren sehen. Viele natürlich in dem bekannten Format: quadratisches Bild, breiterer weißer Streifen unten, Bild Höhe mal Breite ca. acht Zentimeter. Hier links sogar mit nostalgischen Foto-Ecken befestigt. Die meisten Bilder sind aus den siebziger und achtziger Jahren, die große Zeit der Polaroids. Heute knipsen nur noch wenige mit dem kostspieligen Material, leider. Die Ausstellung zeigt eine überraschende Bandbreite der Stile, Objekte, Techniken. Und sogar der Formate,  wobei die Kameras für die Fotos in Übergröße schon mal hundert Kilo wogen und eher per Lieferwagen transportiert wurden. Es gibt die kunstvollst arrangierten Stillleben wie hier links, es gibt die Bilder im Bild wie in  der ersten Zeile hier drunter, und darunter die Reihen und größeren Formate, die aus vielen einzelnen Polaroids zusammengesetzt sind, seien das fast religiös anmutende Tryptichen oder dokumentarische Ikonen. Und es gibt die Motive, die keiner der ausgestellten Künstler so entwickelt hat, sondern die Ausstellungsmacher - sie haben Vitrinen mit Technik und Kameras in die Räume gestellt, die in Kontakt treten mit den Fotos an der Wand.

 

in den ausgehenden siebziger Jahren entwickelte sich der Punk, und einige Künstler waren Punker auf dem Fotopapier. Malerei zu der Zeit war schon längst zum größeren Teil abstrakt, und auch einige der Fotokünstler versuchten sich in absoluter Abstraktion bis zur Destruktion des quadratischen Polaroid-Bildformats. Es war alles erlaubt. Diese Ausstellung ist ein erfrischender Rückblick auf eine überbordende Kreativität, die hoffentlich nie ein Ende nehmen wird. Allerdings wohl dann eher nicht mehr mit Polaroids, das ist wohl doch eine Phase, die vergangen ist und heutzutage eher einer Software für digitale Fotografie weicht, die dasselbe kann und noch viel mehr. Die Technik ist nur das Vehikel, es kommt drauf an, was man draus macht.

Und weil das Museum für Kunst und Gewerbe mitten in der großen Stadt liegt, kann man auch nach dem Ausstellungs-besuch weiter Dinge erleben und sehen, in denen sich die Abbildung der Realität fortsetzt, oder ist es die Realität selbst, die mich streift? Direkt vor dem Eingang wird mir in fast nicht abzu-wehrender Offensivität Heroin angeboten, Shore oder was immer ich will. Ich will aber gar nichts. Fühle mich ein bisschen verfolgt. Paranoid?  Um die Ecke dann ein schön angesprayter Sicherungs- oder Schaltkasten, irgendwas von der Technik das darunter liegenden Hauptbahn-hofsbetriebs.

 

 

 

 

 

 

 

Sonntag, 15. April 2018

Fratelli Strozzi und die Flussmühlen

 

 

Für ein Ausstellungsprojekt in derr Holmer Mühle im Herbst dieses Jahres lese ich alles, was mit Mühlen zu tun hat und mit dem Leben in der Mühle und drumherum, vor allem in den letzten hundertfünfzig Jahren. Im Augenblick verschlinge ich den 800 Seiten dicken Roman „Die Mühle am Po“ von Riccardo Bachelli. Er ist 1936 erschienen und zeichnet die Geschichte einer Flussmühle am italienischen Po seit 1812. Eine wahre soap opera vor der Zeit medialer Verarbeitung in Fernsehserien und YouTube-Filmchen. Die Gegend, wo die Mühle im Fluss liegt, kennen wir aus früheren Urlaubsaufenthalten im Delta des Po. Etwas weiter in Richtung Flussmündung, in Porto Viro, habe ich vor einigen Jahren einen kleinen Handwerksbetrieb fotografiert. Die Gebrüder Strozzi betreiben ihn an der Via Contarini, und sie arbeiten in einem Gewerbe, das sich „Palificazione Diaframmi“ nennt und für das ich keine Übersetzung finde. Es muss etwas mit Pfählen und Abdichten zu tun haben, also Deichbau, Kanalisierung, Hochwasserschutz o.ö. Das spielt am Po eine bedeutsame Rolle, weil der unberechenbar über die Ufer tritt.

Im Roman von Bachelli werden dann schon mal Dutzende von Flussmühlen losgerissen und treiben flussabwärts, bis sie auf eine Sandbank laufen oder an einer Landzunge zerschellen. Vor einhundertfünfzig Jahren gehörten die Hochwasser aber zu den gewöhnlicheren Unglücken. Mindsestens ebenso schlimm waren wechselnde Heere von den Österreichern, dem päpstlichen Kirchenstaat oder liberalen Aufständischen, die das herrschende Regime wechselweise stützen oder stürzen wollten. „Italien“ gab es ja noch nicht. Hinzu kamen marodierende Arbeits- und Besitzlose, entlassene Soldaten, alle die ohne was zu essen, ohne Perspektive und ohne Plan. An dem Wohnhaus der Fratelli Strozzi standen mit Schablonen gesprühte Graffiti: „A chi l'Abbissinia?“ konnten wir da lesen, wem gehört Abbessinien? Und die Antwort stand auch gleich dabei: „A noi“, uns. Links neben der Tür war mit derselben Schriftschablone ein Liedtitel gesprüht: „Noi tireremo diritto“, wir gehen nach rechts. Das Lied der Abbessinienkämpfer unter Mussolini beschwor martialisch den Kampf der proletarischen Kämpfer für das Vaterland und die Eroberung der Welt. Der Abbessinienkrieg ist achtzig Jahre her. Der Roman über die Mühle am Po ist in dem Jahr dieses Feldzugs erschienen. Das ist alles irgendwie lange her und reicht doch bis heute. In Abbessinien hat das faschistische Italien übrigens völkerrechtswidrig angegriffen und verbotenes Giftgas eingesetzt. Syrien lässt grüßen. Alles hängt mit allem zusammen, das Ahmaz-Prinzip.

 

 

 

Sonntag, 8. April 2018

Bildsuche

 

Ausstellungseröffnung beim Buchholzer Kunst-verein: Viel gelernt,  viel gesehen und ein bisschen auf die Ohren.

 

Der Maler Gerhard Fietz (1910-1997 - mir bis dato unbekannt, und damit stehe ich nicht allein) ist einer der prägenden Gestalter abstrakter Malerei in Deutschland gewesen. Mit seiner Gruppe "Zen 49" machte er sich nach dem zweiten Weltkrieg auf den "Weg zum absoluten Bild". Was er an diesem Weg alles entdeckte, wer einen da alles anweht (Mondrian, Kandinsky, Klee  und eben auch Zen) ist beeindruckend. Und das alles im kleinen Buchholzer Kunstverein, da haben die Kuratoren etwas Außerordentliches in die Heide geholt. Sven Nommensen im Gespräch mit einem Wegbegleiter von Gerhard Fietz, Stiftungs-Geschäftsführer Carsten Junge, und der Tochter des Künstlers Judith Fietz, das war ein gelungener Talk mit hohem Niveau und Gesprächspartnern mit je eigenem Profil und eigenen Kanten, und am Ende  konnte sogar Sven Nommensen dem Gast das Schlusswort überlassen.

Bilder muss man ansehen, nicht abfotografieren. Vor allem wenn sie verglast sind, ist das mit dem Knipsen sowieso nur eingeschränkt sinnvoll (vgl. auch post vom 18.3. über dier Longo-Austellung). Ich war gefesselt von dem Prozess, in dem Fietz - je älter er wurde - immer kraftvoller, farbiger, disziplinierter gemalt hat, zum Schluss mit weit über achtzig Jahren, eine Hand gelähmt, aber ungebremst. Und unbestechlich nur seiner Kunst verpflichtet, nicht dem Markt und nicht dem großen Publikum. Traurig, dass er auch bis heute eher im Hintergrund blieb, seine Bilder nicht so gewürdigt werden, wie sie es verdienen.

Zu einer ordentlichen Ausstellungseröffnung gehört auch ein Musikquartett. Hier waren es vier SaxophonspielerInnen, darunter die Leiterin des Buchholzer Stadtorchesters Inka Kruse und der Chef der örtlichen Jugendmusikschule Thomas Hansen. Das war ganz herausragend gut, von Joe Zawinuls Birdland  bis I Feel Good von James Brown eine groovende, funky Preziose. Die spielen in dieser oder ähnlicher Kombination öfter mal in Buchholz. Drauf achten - hingehen - jubeln. Dem Naturkraft-Enthusiasten Fietz hätten diese erdigen Klänge gefallen (könnte ich mir vorstellen).

 

Die MusikerInnen:

Donnerstag, 22. März 2018

Tag des unbekannten Graffiti-Künstlers

Während der Sensor meiner Kamera gereinigt wurde (Frühlingsfest bei Calumet, dem Foto-Laden in Ottensen)  hatte ich anderthalb Stunden Zeit, durch die Straßen zu streifen, mit der kleinen Zweitkamera in der Jackentasche. Trauter Niesel durchwebte die Luft, durch Kohlentwiete und Strese-mannstraße führte mich der des Tourismus unverdächtige Pfad in die Harkortstraße und den Lessing-Tunnel. Dann zurück zu Calumet und dem Sensor. Unterwegs fielen mir die teilweise völlig unscheinbaren Kunstwerke an den rau verputzten Wänden auf, die sicher zum großen Teil nie betrachtet wurden, niemanden zum Stehenbleiben anregten, deren Schicksal das Übersehen-Werden war, und die dennoch ausharrten, ab-blätterten, verblichen, ihren Dienst taten. Pflichtbewusste Graffiti. Durchaus nicht immer dem Anspruch nach ästhe-tischer Raffinesse  unterliegend, aber doch auch überraschend, teilweise ganz absichtlos gelungen. Das obenstehende paist up im Lessingtunnel dürfte noch zu den Prominenteren gehören, witzig, frech. Andere zeigen eine ganz und gar zusammenhanglose Ansammlung von persönlichen statements, Sprühproben, die man auch im Hinterhof hätte machen können, je nun, jetzt blicken sie auf die verkehrsreiche Stresemannstraße, dort, wo sie schon gar nicht mehr schön ist, Höhe Paketpost, da muss ein Graffiti häßlich sein, um zu passen, es darf nicht kokettieren, muss auf die Fresse geben, um es mit Frau Nahles zu sagen.  Und mitten drin Altona Neue Mitte, tausende von Wohnungen im Bau, was dort an die Wände passt, muss sich erst noch zeigen.

Sonntag, 18. März 2018

Deichtor-Longo

Die Deichtorhallen sind durch die Sanierung zu einem perfekteren Kunst-Ausstell-Ambiente geworden. Aber den Charme der gebrauchten Funktionshalle haben sie eingebüßt. Im Foyer (links) sind wenigstens einige der riesigen Fenster zu sehen, die in der Halle selbst ver-schwunden sind (Hängefläche gewinnen!). Für die aktuelle Ausstellung von Longo-Zeichnungen passt das weiße Drumherum jedoch nahtlos. Die Kohlezeichnungen mit dem photorealistischen Effekt in riesigen Formaten kommen hier wunderbar zur Geltung. Longo bezeichnet sich selbst als "Bilderdieb", weil er Fotos als Ausgangsmaterial verwendet, um dann aber in seiner unglaublich eindrucksvollen Weise mit dem Kohlestift den Grautönen nachzuspüren, die zwischen den radikalen Extremen von Schwarz und Weiß eigentlich eine ganze Welt bedeuten. Ich weiß nicht, ob er Nik-Tools "Silver Effex" kennt - es würde mich interessieren, was er von dieser Software hält, die bei der Transformierung von Farbfotos in Schwarzweiß die Grautöne der einzelnen Farben in verschiedenen Filter-Algorithmen umrechnet und so Fotos erzeugt, die ein viel lebendigeres Grau-Spiel haben als wenn man einfach die Farbe aus einem Foto rauslässt. Drei Beispiele:

Das Flüchtlingsboot-Foto oben links hat er um einige Meter Meer erweitert und die Perspektive eines Schwimmenden (Ertrinken-den?) gewählt. Früher durften die Zeichnungen Robert Longos wohl unverglast gehängt werden, hier ist jetzt alles verspiegelt, das hat auch spezifische Effekte und man kann damit spielen, aber es stört irgendwie doch mächtig. Gleichwohl - eine Ausstellung, die wie die "Horizon Fields" in diesen Räumen vor der Sanierung aus meiner Sicht ein "must" ist, obwohl ich da rede wie ein Blinder von den Grautönen, weil so oft gehe ich gar nicht in Ausstellungen, dass ich derart apodiktische Urteile fällen dürfte. Der Adler, das Wappen- und Symboltier der US-Amerikaner, habe eine Frisur wie Donald Trump, so Longo. Er habe versucht, ihn erschöpft und gebraucht aussehen zu lassen.

Am Ende steht ein Foto, das auf dem Weg zur Ausstellung entstanden ist, am Eingang zur Parkgarage in den City-Hochhäusern (bearbeitet ebenfalls mit Nik-Tools "Silver Effex"). Vor sechs Jahren hat man die City-Häuser von der damals noch transparenten Halle aus noch gesehen (s. post vom 26. 8.2012). Und auch das in die Fassade der Halle  integrierte Werk von Mario Mertz, der Neon-Schriftzug: "Se la forma scompare la sua radice  è eterna". Der Abriss der City-Hochhäuser steht in den nächsten ein,zwei Monaten bevor.  Dieses Alltagskunstwerk wird demnächst verschwinden. Wie sagt der Dichter? " Was bleibet aber, stiften die Dichter", Höderlin. Das war einmal. Heute gilt: Was aber bleibet, stiften die Fotos.

 

Montag, 12. März 2018

Mühlenfahrräder

Im Film "Fahrraddiebe", den Vittorio de Sica 1948 gedreht hat, werden beklemmend-bedrückend existenzielle Not und Mensch-Sein miteinander verknüpft. Das Fahrrad kann stellvertretend stehen für alles, was man zum Leben benötigt, ob das nun ein Transitvisum ist, eine Aufenthaltsgenehmigung, ein Mietvertrag oder eine Liebe. Bei meinen Rundreisen zu den Mühlen unserer Region fielen mir die alten Fahrräder auf, die an vielen Mühlen standen und dem Augenschein nach dort schon lange standen ohne benutzt zu werden. Sie mögen ein museales Denkmal sein für die Zeiten, in denen das Fahrrad die wichtigste Verbindung zur Welt (und ein Statusymbol) darstellte. Daneben stehen hier Fahhrräder, die ich in Sri Lanka, Italien oder bei uns zuhause gesehen habe. Manche liegen an Ketten, die angesichts des desolaten Objektzustands jede Funktion verloren haben ("Radfahrer der ganzen Welt, vereinigt Euch, Ihr habt nichtds zu verlieren als Eure Ketten"). Es gibt nichts mehr zu sichern. Manche strahlen den Charme alter Straßenkreuzer in Havanna aus, am Leben erhalten um fast jeden Preis, so wichtig wie das Fahrrad in dem Film von de Sica.

Fundorte der Räder: ganz oben Wassermühle Karoxbostel / obere Reihe von links: Holmer Mühle / Wassermühle Seppensen, / Holmer Mühle um 1900 / zweite Reihe: zweimal Sri Lanka / Italien (Cinque Terre) / dritte Reihe: dreimal Italien

 

 

 

Dienstag, 20. Februar 2018 -

Spijöök und andere friesische Merkwürdigkeiten

Ein Museum für Kuriositäten und Denkwürdigkeiten aus der Vareler Gegend ist das "Spijöök" am Hafen der Stadt am Jadebusen. Wir entdeckten dort Dinge, von denen wir Landratten bisher nicht ahnten. Das Eich-Hörnchen zum Justieren aller erdenklicher nautischer Gerätschaf-ten,  die Tang-Stelle zum Betanken mit Algen-Kondensat auf hoher See, und die Herkunft französischer Revolutions-Vokabeln: sie tranken einfach Liberté als Wasser... Der Mut zur absoluten Geschmacklosigkeit (über das Rezept zur Gewinnung des ortsüblichen Labskaus schweigen wir hier) und zum besinnungslosen Kalauer zeichnet das kleine Schmuckstück aus. Die Gruppe "Menschenmüll", die das Etablissement seit Jahrzehnten betreibt, sitzt mitlerweile sogar im Vareler Stadtrat und im Kreistag, wo sie eine Listenverbindung mit der Linkspartei bildet. Das finde ich nun auch wieder komisch...

Ansonsten findet man bei prä- und post-Grünkohl-Spaziergängen in Dangast und umzu auch nach jährlicher Wiederholung in den letzten fünf, sechs Jahren immer wieder neue Blicke - oder findet die alten erneut schön. Manchmal erfreut ja allein die Wiederholung und die Beständigkeit. Eet wat goor is / drink wat kloor is / snack wat woohr is. In diesem Sinne...

Mittwoch, 7. Februar 2018 -

The Rock

 

Vier Tage auf Helgoland sind schon was Eigenes. Hochseeinsel (die einzige Deutschlands), dänisch-englisch-deutsche Geschichte, Totalzerstörung bei Fliegerangriffen und dem "big bang" nach dem Zweiten Weltkrieg, Wiederaufbau (pure fünfziger Jahre, mit allem Licht und Schatten). Bauhaus meets Obi. Und diese gnadenlos süßen Robben-babys auf der Düne, dort seit den neunziger Jahren heimisch, wie auf den Felsen die Basstölpel und Lummen (im Februar noch nicht wieder da). Die Begegnung mit den Robben und Seehunden in freier Wildbahn ist eine schon für sich ungewohnte Angelegenheit, aber bei Windstärke sieben besonders eindrücklich. Dreißig Meter Abstand, ist die Regel, aber was macht man, wenn man um die Ecke biegt und da liegt so ein kleiner Klops hinter der Düne? Schnell knipsen und dann weg. Vierhundert Robben-Geburten gab es auf der Düne in diesem Jahr, soviel wie nie in den letzten Jahrzehnten. Den Robben scheint es gut zu gefallen auf der Düne, und die Touristen nerven zumindest nicht so, dass der Robbenvorstand beschlossen hätte, einen anderen Ort aufzusuchen. Nur die Hummer werden immer weniger. Die Wasserqualität wird offensichtlich unterschiedlich empfindlich registriert. Nun werden die Hummer nicht mehr gegessen, sondern aufgepäppelt und wieder ausgesetzt. Vielleicht können wir in ein paar Jahren auch die Hummer beobachten. Bei der Tauchführung könne man den Seehunden fast die Flossen schütteln. Na ja, da werden die sich schön bedanken, aber neugierig sind sie ja schon. Den Hummern die Scheren schütteln? Na ja...

Außer dem Ober- und Unterland mit seinen gewöhnungsbedürftig unattraktiven Häusern gibt es Felsen satt, von der Langen Anna (noch steht sie) bis zur Übergangszone am Ufer und den künstlichen Molen (die mittlerweile auch zum Teil schon etwas antiquarisch wirken). Vor allem die alten Eisenträger rosten bildschön vor sich hin, eine Stelensammlung ganz eigener Art, Skulpturenpark Helgoland Nord. Ganzjährig geöffnet, am besten bei Niedrigwasser (ab zweite Reihe unten - links bei Hochwasser).

Freitag, 26. Januar 2018 -

Über die künstliche Herstellung von Kunsthonig

 

Der Titel stammt von einem Seminar an der HfbK, an dem ich 1972 oder so als Gasthörer teilgenommen habe. Achim Lipp war der Dozent, und wir haben zusätzliche Unterrichtsräume in die Flure des Altbaus gezimmert, als künstlerischen Beitrag zum Protest gegen schlechte Studienbedingungen. Kunst, auch Photokunst, ist aus den Bretterverschlägen unseres Seminars  in den heiligen Hallen angekommen. Die 25 gesatern präsentierten Photographen sind meist gerade mit dem Studium fertig gewesen, als sie prämiiert wurden. Ihre Werke haben mich aber doch auch an das Seminar erinnert: Über die künstliche Herstellung von Kunsthonig... oder wie sich die Abbildung des Abbildungsvorgangs verfremden und dadurch präzisieren lässt. Oder so. Da scannen sich Scanner selbst und das wird abgebildet. Hinweise zum Umgang mit Farbfiltern filtern die Realität. Dazwischen die hippen jungen Menschen in Schwarz, mit einem Plastikbecher Sekt in der Hand, und der DJ untermalt den erheblichen Gesprächsgeräuschpegel von tausend Besuchern mit baßlastigem Groove-Jazz. Die "Führungen" werden zur Pantomime: Man sieht die Protagonisten sprechen, aber hören kann man sie nicht. Sonst würde man vielleicht was verstehen. Aber so spricht nur die Kunst. Vier, fünf "Positionen" (wie die Werke neudeutsch genannt werden) haben mich sehr spontan und nachhaltig beschäftigt. Das reicht für einen Abend. Hinterher hab ich mir im Shop zum Ausgleich einen Bildband von Tim McCurry mitgenommen. Atemberaubende Bilder aus Asien, die aber wenig über Wittgenstein und die Digitalisierung der Bildwelt mitteilen. Bin ich eben altmodisch.

Oben links ist überigens die Künstlerin persönlich zu sehen, wie sie gerade selbst die Rezeption ihrer Bilder durch das zahlreiche Publikum fotografiert. Mit dem Smartphone, sie ist ja nicht von gestern. Ich hab sie an den Strümpfen erkannt, die mir schon aufgefallen waren, als am Anfang Nadja Bournonville mit den 24 anderen Künstlern des Abends vorgestellt wurde. Über die künstliche Herstellung einer natürlichen Aufmerksamkeit. Über diesen Abend ließe sich auch das eine oder andere Seminar machen.

 

 

 

Dienstag, 9. Januar 2018:          Wasserkunst und Mäzenaten  -  Augsburg

 

Ein verlängertes Wochenende in einer der ältesten deutschen Städte, nur knapp geschlagen von Trier, das ein Jahr älter ist. Hier weiß man zu feiern. Nicht nur der 6.1., unser Stadterkun-dungstag, ist ein Feiertag (Heilige Drei Könige), es gibt auch den Hohen Friedenstag am 8.8., der seit 1650 begangen wird und nur in Augsburg Feiertag ist. Daher ist Augsburg die Stadt mit den meisten Feiertagen in Deutsch-land. Noch hängt der Weih-nachtsschmuck in den Straßen, wenn auch bei warmen Föhn-Temperaturen am 6.1. etwas deplatziert wirkend, hat auch was. Deplatzierte Engel. Es präesentiert sich eine reiche Stadt (freie Reichsstadt bis 1805... na ja, ein Wortspiel). Seit Jahrhunderten haben die Augsburger ihre Wasserversorgung vorbildlich entwickelt, eine ganze Reihe von Kanälen (meist mit Wasser aus dem Lech) bezeugt das bis heute, sie durchziehen die Wohnviertel der Unterstadt. Oben wohnt das Geld, allen voran die Familie Fugger. In einer geschickten PR-Aktion haben sie vor fiünfhundert Jahren eine noch heute bewohnte Sozialsiedlung für 150 Menschen errichtet, die bis heute im Jahr 88 ct. Miete bezahlen, plus drei Gebete am Tag (einziehen dürfen nur wohlbeleumdete, arme Katholiken). Heute ist Augsburg die Großstadt mit dem höchsten Anteil an Einwohnern mit Migrationshintergrund - aber nicht in der Fuggerei... (unten Bilder 1-4: Straßenbild, danach: Fuggerei) .

Augsburg ist eine lebendige Stadt (nicht nur bei Föhn im Januar, wenn alles in die Straßéncafés drängt). Und auch wenn es einzelne Hinweise gibt, dass der Straßenverkauf sich nicht mehr überall rechnet (Fußgängerzone, unten 1. Reihe rechts). Vielleicht sind auch schon alle Straßen verkauft. Der Lechkanal schäumt (Mitte links) - nicht zuletzt wegen des hohen Wasserstands in diesen Wochen. "Dies war mal ne schöne Wand", steht mit Edding mitten in dem Graffiti (2. Reihe rechts). Man dürfte hier oder da ruhig mal etwas mehr davon sehen, wie alt diese Stadt ist. Sie ist aber eher sehr gut gepflegt, geliftet, manchmal ein wenig Pomade. Wer traut sich schon alt auszusehen?

Sonntag, 07. Januar 2018: Die Kiste

Die Augsburger Puppenkiste wurde nach dem Krieg von der Familie Oehmichen-Marschall aufgebaut - nach Verlust der Türrahmen-Bühne als Micky-Maus-Theater für amerikani-sche Soldaten. Dann kam die "Kiste" im Heilig-Geist-Spital, kam Ende der fünfziger Jahre das Fernsehen, und ich habe vieles gesehen: zuerst bei Freunden die Mumins, später zuhause Jim Knopf und Lukas und die Wilde Dreizehn, die Dschungeldetek-tive, Urmel aus dem Eis... Jetzt entdecke ich vieles im Museum der Puppenkiste wieder, Nostal-gie pur. Den alten Film von der Muminfamilie habe ich nach jahrelangen  Recherchen nun endlich auf YouTube gefunden (https://www.youtube.com/watch?v=MkDkZ2eAlOI oder https://www.youtube.com/watch?v=lrJvCQ95Pls, von 1960, schwarz-weiß und sehr betulich). Die neueren Filme gibt es ja meist auff DVD. Obwohl ein Flachbildschirm mit 111 cm Bildschirmdiagonale kein gutes Ambiente für ein Marionettentheater ist. Nächste Mal in Augsburg besorgen wir uns rechtzeitig Karten. Und gucken jetzt schon mal, wann das Hermannshoftheater kurz hinter Wistedt wieder was aufführt mit seinen Puppen, das ist näher dran und hat uns auch schon über die Maßen begeistert (vor allem "Anna Karenina").